Die Schatten der Vergangenheit
nicht erlauben, fürchte ich. Tut mir leid, Remy, du wirst diesem Burschen absagen müssen.«
Er stand auf und brachte seinen Becher zum Spülbecken, als sei das Thema damit erledigt.
»Ich habe gesagt, dass ich ihm nicht erzählt habe, dass ich eine Heilerin bin. Ich habe nicht gesagt, dass er’s nicht weiß!« Mein Großvater drehte sich ruckartig herum, und ich zuckte die Achseln. »Ich habe ihn in der Junior High mal geheilt. Er hat mein Geheimnis für sich behalten.«
»Und das erzählst du mir erst jetzt?«, fragte Franc bedächtig.
»Als ich herkam, kannte ich dich ja nicht und wusste nicht, wie weit du gehen würdest, was du weitererzählen, was du für dich behalten würdest. Meine Mutter hatte so viel Angst vor dir, dass sie abgehauen und nie mehr zu dir zurückgekommen ist. Ist doch logisch, dass ich dir nicht gleich alles über mich anvertraue, oder?«
Als mich Gabriel mit dieser Munition versorgt hatte, meinte er, dieser Vorwurf würde ins Schwarze treffen. Und genauso war es. Mein Großvater zuckte zusammen und seine Augenlider flatterten. Mich beschlichen Gewissensbisse, aber ich fuhr fort: »In einer Stunde bin ich mit Gabriel an der U - Bahn-Station verabredet. Bis später!«
»Remy, ich verbiete dir das!«
»Schön. Ich pack nur noch schnell meine Sachen und schon bin ich weg!«
Ich wandte mich zum Gehen.
»Du gehst nirgendwohin!«
Ich hatte geblufft, natürlich wollte ich nicht ausziehen, doch angesichts der Wut in der Stimme meines Großvaters stellten sich mir die Nackenhaare auf. Diesen Ton hatte mein Stiefvater auch draufgehabt, und zwar gewöhnlich kurz bevor er auf meine Mutter oder mich einschlug.
Wie bei Dean verdrängte ich die Angst, die in mir aufstieg, in den hintersten Winkel und drehte mich dann zu Franc um. »Wenn ich es richtig verstanden habe, bin ich hier Gast. Willst du mir jetzt sagen, dass ich eine Gefangene bin?«
Seine Augen weiteten sich, als er erkannte, dass er eine Grenze überschritten hatte. »Natürlich nicht«, polterte er. »Du bist meine Enkeltochter. Ich würde dich nie wie eine Gefangene behandeln!« Er seufzte. »Verzeih mir. Aber manchmal erinnerst du mich in deiner impulsiven Art an deine Mutter. Ehrlich gesagt, scheiß ich mir da vor Angst fast in die Hose!«
Der derbe Ausdruck aus dem Mund meines weißhaarigen Großvaters entlockte mir unwillkürlich ein Grinsen. »Tut mir leid, dass ich dich damit so überfahren habe. Aber Franc, bitte versteh doch, dass ich vor Kurzem mein Heim und noch mehr verloren habe. Ich bitte ja nicht um viel, aber Gabriel möchte ich einfach unbedingt sehen. Wir haben uns ja nicht hier in deinem Haus verabredet, wenn’s das ist, was dir Sorgen macht. Und falls ich den Eindruck habe, ich werde verfolgt, dann bleibe ich weg. Ich würde nie etwas tun, was die anderen in Gefahr bringt, das musst du doch in der Zwischenzeit wissen!«
Er sah mich lange an. »Ich habe eine bessere Idee«, meinte er schließlich. »Wieso bringst du ihn nicht her? Ich würde den Jungen, der dein Geheimnis für sich behalten hat, gern kennenlernen!«
Verdammt, Gabriel! Genau diese Reaktion meines Großvaters hatte er vorhergesagt. In seiner diebischen Freude darüber, recht gehabt zu haben, würde ich mir bestimmt einiges anhören müssen. Ich hasste arrogante Männer!
Franc schloss Gabriel Reynolds sofort ins Herz.
Ausgestattet mit einer Yankee-Baseballmütze und einem Rucksack, war er mit seinem neuen Nachnamen bei meinem Großvater aufgetaucht. Alle Spuren seines britischen Akzents waren verschwunden, und er sprach durch und durch wie ein New Yorker. Er wirkte jünger und sorgloser, als ich ihn je erlebt hatte. Und er scherzte mit Franc herum, wer nun das bessere Team sei, die Yankees oder die Giants. Zwar war mir klar, dass er diese Show für meinen Großvater abzog, dennoch musste ich an mich halten, diese charmante Version von Ashers Bruder nicht verdutzt anzustarren.
Mein Großvater hatte beschlossen, im Garten zu grillen. Ich deckte den Tisch auf der Terrasse, während es sich Gabriel auf einer Gartenliege gemütlich machte, die Beine ausstreckte und sich die verschränkten Hände auf den Bauch legte. Als mich Franc später bat, den Kartoffelsalat und die Getränke aus dem Kühlschrank zu holen, bot er mir seine Hilfe an. Er legte sogar freundschaftlich den Arm um mich. Ich schüttelte ihn ab, sobald wir in der Küche waren.
»Hallo? Du bist zu so einer Charmeoffensive imstande und machst bei mir lieber einen auf arrogantes
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