Die Schatten der Vergangenheit
In der Ferne quietschten die Reifen irgendeines Autos. Und ich konnte nur daran denken, wie peinlich das alles war, und dass es mir schon wie ein Verrat an Asher vorkam, hier mit Gabriel auch nur zu sitzen.
Ich schüttelte mich. Lass das, Remy. Es ist ja schließlich nicht so, als könntest du je etwas Derartiges für Gabriel empfinden. Wirklich nicht.
Gabriels Mund verzog sich zu einem schmalen Strich. Dann lächelte er schwach. »Du und ich, wir wissen ja beide, dass dein Großvater unrecht hat.«
Ich nickte. »Genau. Du bist ja ohnehin nur wegen Asher hier.«
Er sah nachdenklich auf. »Aber weißt du, wir könnten uns das zunutze machen.«
»Hallo? Jetzt reicht’s aber. Ich werde nicht so tun, als wären wir ein Paar. Nur über meine Leiche!«
»Sag mir ruhig, was du wirklich empfindest, immer raus damit!«
Ich begriff, dass er mich nur ärgern wollte. Er schien sich erholt zu haben, und ich gab ihm einen Knuff. »Halt die Klappe, Gabriel! Und komm. Ich muss zurück.«
Wir marschierten los.
»Wie lange fühlst du schon wieder was?« Ich warf ihm über die Schulter einen neugierigen Blick zu.
Er lächelte verlegen. »Mist! Ich hab gedacht, das hättest du vielleicht nicht mitgekriegt.«
»Äh, genau. Mit deinem Gekreische ›Das hat wehgetan, Remy!‹ hast du mich super an der Nase herumgeführt!«
»Ich habe nicht gekreischt. Ich habe gebrüllt. So, wie richtige Männer das tun!«
Beinahe wäre mir ein Grinsen entwischt. »Jetzt drück dich nicht länger um die Antwort herum! Wie lang schon?«
Ich dachte, er würde nicht antworten, aber schließlich erklärte er in ernstem Ton: »Bei dem Summen grundsätzlich. Und das umso mehr, seitdem ich dir geholfen habe, dich zu heilen.«
Ich runzelte die Stirn. »Tut mir leid, Gabriel.«
Anfangs war Schmerz das Einzige gewesen, das Asher in meiner Nähe hatte empfinden können. Gabriel hatte nie so wirklich durchblicken lassen, was er davon hielt, wieder sterblich zu werden. Der Gedanke, ich könnte für die Blackwells ein Heilmittel darstellen, hatte ihn in Hochstimmung versetzt. Aber damals hatte er auch gewusst, dass Asher sich danach sehnte, wieder menschlich zu sein. Lottie dagegen war gern unsterblich und hasste mich für die wiedererwachten Empfindungen. Gabriel … nun, er hatte seine Gedanken dazu für sich behalten.
»Leid? Was denn?«
Er klang erstaunt, und ich sprach weiter: »Dass ich dir Schmerzen zugefügt habe. Dass ich meine Fähigkeit gegen dich eingesetzt habe. Dass du durch mich wieder etwas fühlst.«
Gabriel winkte ab. »Willst du mir jetzt etwa den Oskar für die beste Drama Queen streitig machen? Jetzt krieg dich mal wieder ein! So schlimm sind die Schmerzen auch wieder nicht, und ich bin schon Fünfjährigen begegnet, die stärker waren als du.«
Ich gab einen verächtlichen Laut von mir, und wir fingen einen Streit darüber an, wer den anderen zuerst zu Brei schlagen könnte. Es war mir nicht entgangen, dass Gabrielmich absichtlich abgelenkt hatte. Zu meinem Erstaunen war meine Abneigung gegen Gabriel gar nicht mehr so groß wie gedacht. Tatsächlich hätte ich Ashers Bruder beinahe als Freund bezeichnet, hätten mich nicht Zweifel beschlichen, dass er mich aus puren Rachegelüsten jederzeit vor einen Bus stoßen könnte.
Gabriel lebte sich in der Heilergemeinde schneller ein, als ich es getan hatte. Er mutierte zu einem liebenswürdigen Kerl, mit dem alle gut auskamen. Keine Spur mehr von seiner Arroganz. Im Nu hatten sich alle daran gewöhnt, dass er mich immer begleitete. Dass er wahnsinnig gut aussah, tat ein Übriges, tatsächlich verschlangen ihn die Frauen nur so mit ihren Blicken. Mehr als einmal hätte ich ihm am liebsten eine runtergehauen, als ich mitbekam, wie sehr er diesen Umstand ausnutzte.
Gleichzeitig vermied er alles, um Misstrauen zu erregen. Wenn wir nicht allein waren, hatte er seinen Schutzwall grundsätzlich oben. Er stellte keinerlei Fragen, und er wich nicht von meiner Seite, außer mein Großvater trug ihm irgendeine Arbeit im Haus oder im Garten auf. Im Grunde verbrachte er mehr Zeit mit mir als im Marina Hostel, in dem er sich einquartiert hatte. Ihm zufolge wartete er ab, dass Francs Leute Xavier und Mark ausfindig machten.
Einen Monat, nachdem ich Gabriel in der Heilergemeinde vorgestellt hatte, bat mein Großvater ihn, etwas am Dach zu reparieren. Erin, Delia und ich hatten es uns in Liegestühlen bequem gemacht, tranken Eisteeund genossen die Sonne mit dem dumpfen Klang eines Hammers im
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