Die Schatten der Vergangenheit
Nationalpark wies. Ich runzelte die Stirn, als Franc in die entgegengesetzte Richtung fuhr.
Er bemerkte meine Verwirrung. »Ich muss noch schnell einen kleinen Abstecher machen«, meinte er. »Und dann geht’s auch schon weiter.«
Zehn Minuten darauf hielten wir in einer privaten Zufahrt an. Das moderne zweigeschossige Haus besaß mehr Fenster als Mauern, was den Besitzern wenig Privatsphäre ließ. Angesichts der Tatsache, wie sich Heiler normalerweise abschotteten, bezweifelte ich, dass hier welche lebten.
Franc sprang hinaus und bedeutete mir, ihm zu folgen, als ich zögerte. Eine Frau in den Dreißigern machte uns auf, noch bevor er klopfen konnte, und ich trat vor Überraschung einen Schritt zurück. Von durchschnittlicher Größe, mit durchschnittlichem braunem Haar von durchschnittlicher Länge, stach an dieser Frau nichts hervor. Ich bezweifle, dass ich sie einen Tag darauf in einer Menschenmenge noch wiedererkannt hätte. Aber etwas an ihr stimmte nicht, auch wenn ich nicht drauf kam, was.
»Hey, ihr seid aber schnell da!«
»Melinda, wie geht es dir?«
Ein Small Talk über die Fahrt und das Wetter folgte. Die ganze Zeit über verschlang mich die Frau mit ihren Blicken. Dann bat sie uns, doch einzutreten, und Franc ging an ihr vorbei ins Wohnzimmer. Als er uns miteinander bekannt machte und sie mir ihre Hand entgegenstreckte, tat ich so, als würde ich mir gerade interessiert die Einrichtung ansehen. Alles in mir wehrte sich dagegen, diese Frau zu berühren.
Sie zog verwirrt die Stirn kraus, als ich meinem Großvater in einem weiten Bogen um sie ins Wohnzimmer folgte. Franc setzte sich auf die Couch, und die Frau nahm neben ihm Platz. Sie unterhielten sich über gemeinsame Freunde, und ich blendete ihre Unterhaltung aus. Ruhelos schlenderte ich zu den raumhohen Fenstern mit Blick auf die Zufahrt.
Wieso flößte diese Frau mir eine solche Angst ein? Sie war keine Beschützerin, denn das hätte ich sofort gemerkt. Ich war ihr noch nie zuvor begegnet. Da war ich mir sicher, obwohl sie mich an jemanden erinnerte. An jemanden aus meiner Vergangenheit in New York.
Ich warf ihr einen verstohlenen Blick zu. Und dann fiel es mir ein. Mrs Rosenbaum! Sie erinnerte mich an Mrs Rosenbaum, die Lehrerin aus meiner alten Schule. Die, von der ich Delia, Alcais und Erin erzählt hatte. Sie hatte Magenkrebs gehabt, eine Krankheit, die mich beinahe das Leben gekostet hätte, als ich zufällig mit ihr zusammengestoßen war und mein Körper automatisch angefangen hatte, sie zu heilen. Damals war ich vierzehn.
Seitdem hatte ich vermieden, irgendetwas zu heilen, das mit dem »großen K« in Verbindung stand.
Melinda hatte den gleichen Blick, den Mrs Rosenbaum gehabt hatte. Sie war krank, und zwar schwer, wie ich vermutete.Im Fenster betrachtete mich mein Großvater mit einem abwägenden Gesichtsausdruck, der mir nicht gefiel. Ich wusste, was kam, und hielt den Atem an.
»Remy«, begann er zögernd, und ich drehte mich mit trotzig gerecktem Kinn zu ihnen um. Er hatte mich mit einer Finte hierhergelockt.
Bitte frag es nicht! Mein Magen verschlang sich zu einem Doppelknoten.
Ich hörte kaum zu, als Franc zu einer langatmigen Erklärung darüber ansetzte, dass Melinda an einer seltenen Blutkrankheit litt. Sie würde daran sterben, und keine der Heilerinnen habe sie heilen können, aber die Tests hätten gezeigt, dass ich zu Dingen in der Lage sei, die sie nicht konnten. Er hasse es, mich zu fragen, aber könnte ich … könnte ich …
Er bekam nicht einmal die Frage heraus. Sein Kinn fiel ihm auf die Brust, als schämte er sich dafür, mich hergebracht zu haben. Ich öffnete den Mund, um ihm die Bitte abzuschlagen. Es war ja klar, dass das nicht ging. Ich konnte für diese Fremde doch nicht mein Leben aufs Spiel setzen. Hatten Asher und Lucy mir nicht geraten, die Konsequenzen abzuwägen? War mein Leben weniger wert als das dieser Fremden?
Melinda griff nach der Hand meines Großvaters und umklammerte sie. Ich bemerkte, wie nahe sie beieinander saßen, und biss mir auf die Lippen. Ihre Blicke begegneten sich, und es steckte eine solche Intimität darin, dass ich mir dafür, dass ich Zeuge davon wurde, wie ein Eindringling vorkam. Auweia, mein Großvater liebte diese Frau!
Fragen schossen mir durch den Kopf. Wieso hatte er sie mir bislang noch nicht vorgestellt? Waren sie ein Paar? Wieso hatte er sie noch nicht einmal erwähnt? Ich hätte wütend sein sollen, aber das hätte eine Heuchlerin aus mir gemacht.
Weitere Kostenlose Bücher