Die Schatten der Vergangenheit
verknallt, selbst wenn du’s nicht zugibst.«
Ich ließ mein Buch auf meine Brust fallen und sah sie düster an. »Nein, garantiert nicht.«
Sie lächelte und lehnte sich wieder zurück, um die Delia-Show zu verfolgen. »Was immer du sagst!«
Je länger ich bei meinem Großvater blieb, desto mehr hatte ich das Gefühl, ich hätte mich verloren. Und je mehr Zeit ich mit Gabriel verbrachte, umso mehr hatte ich das Gefühl, Asher würde mir entgleiten. Ich hätte Gabriel nie für Asher gehalten, aber sie ähnelten einander so sehr. Das gleiche Haar, die gleichen Augen. Ähnliche Gesichtszüge. Und dann die Art, wie sie auftraten: Sie bewegten sich mit einer Mischung aus Selbstbewusstsein und Arroganz, die von ihren Beschützergaben herrührte. Mit dem einen Unterschied: Bei Gabriel war alles präsenter und intensiver.
Asher zuliebe tolerierten Gabriel und ich einander. Ich fand es schwierig, unser Verhältnis zu beschreiben. Delia und Erin glaubten, er passe auf mich auf, weil er mich gern hätte. Sie bildeten sich ein, wir hätten Gefühle füreinander.
Sie irrten sich. Diese Art von Liebe würde ich gegenüber Gabriel nie empfinden.
Allmählich fragte ich mich, was das Ganze eigentlich für einen Sinn hatte. Vergeltung für Ashers Tod. Würde er das überhaupt wollen? Langsam war ich mir da gar nicht mehr so sicher. Was, wenn ich die Heilergemeinde und meinen Großvater verließe? Zu meiner Familie konnte ich nicht zurück. Ich hatte weder Geld noch Freunde. Wirklich, es gab keinen Ort, an den ich gehen konnte.
Du könntest dir deine Fähigkeiten immer bezahlen lassen. Kaum war mir der Gedanke gekommen, hatte ich ihn auch schon wieder verworfen. Ich weigerte mich, diesen Geldgierigen zu ähneln, die den Höchstbietenden geheilt hatten. Zudem würde es die Beschützer erst recht auf den Plan rufen, wenn ich offen Menschen heilte.
Ich hatte genug davon, mich in meinem Bett hin und her zu werfen. In dem dunklen Raum bekam ich keine Luft mehr, und ich stand auf und ging in die Küche, um mir einen Kaffeeaufzusetzen. Ich stand am Spülbecken, nippte an der heißen Flüssigkeit und beobachtete, wie die Sonne über dem Wald aufging. Die Tasse wärmte mir die Hände. Ausnahmsweise einmal sehnte ich mich nicht danach, draußen zu sein und losrasen zu können. Nein, ich sehnte mich nach Blackwell Falls, dabei führte kein Weg dorthin zurück.
Die Sehnsucht nach meiner Familie, die Geschehnisse der letzten Monate, all das zehrte an mir, und an manchen Tagen fühlte ich mich so ausgehöhlt, wie man es tat, wenn sich einem vor Hunger der Magen zusammenkrampfte.
»Remy? Alles okay?«
Francs Stimme erschreckte mich. Er trug noch immer die Jogginghose und das T - Shirt, in denen er schlafen gegangen war. Gähnend fuhr er sich durchs Haar, sodass es noch wilder aussah als ohnehin schon.
Ich lächelte ihn schwach an. »Hab nur etwas Heimweh.«
Er nahm mir meinen Becher ab, stellte ihn auf die Küchentheke und drückte mich dann an seine breite Brust. Ich schmiegte mich an ihn und wünschte, ich hätte die Kraft zu vergessen.
Franc tätschelte mich am Rücken und gab mich dann frei. »Sag mal, was hältst du davon, wenn wir uns heute einen schönen Tag machen? Und vielleicht zu den Muir Woods fahren? Eine Veränderung könnte uns gut tun.«
Ich nickte. »Oh ja, gern!«
»Na, dann komm. Ziehen wir uns an, und los geht’s!«
Eine Stunde später fuhren wir über die Golden Gate Bridge. Auf der einen Seite der Brücke erhob sich die Stadt auf hügeligem Gelände, umgeben von den blauen Gewässern der Bucht. Auf der anderen Seite der Brücke erstreckte sich der Pazifik endlos bis zum Horizont. Schwer zu sagen, welcher Anblick schöner war.
Ich fuhr mit einem Finger über das Handy, das sich in meiner Hosentasche befand. Ich hatte Gabriel bereits eine SMS geschickt, damit er wusste, dass ich tagsüber unterwegs sei, aber er hatte nicht geantwortet. Das hatte es noch nie gegeben, und ich machte mir Sorgen deswegen, sagte mir aber gleichzeitig, dass ein bisschen Abstand auch nicht schadete.
Schließlich ließen wir den Ozean und die Brücke hinter uns. Auf gewundenen Straßen, vorbei an Häusern, die gleich neben der Straße in den Wäldern standen, fuhren wir in die Hügellandschaft. Von Muir Woods mit seinen Mammutbäumen, von denen einige so groß waren, dass ganze Menschengruppen in ihnen hätten stehen können, hatte ich schon gehört. Wir erreichten eine Kreuzung mit einem Schild, das uns den Weg zum
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