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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank W. Haubold
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Verlegenheit, und als sie den Blick abwandte, fühlte er einen leisen Stich der Enttäuschung.
    »Danken wofür?« fragte er schließlich.
    »Daß Sie mir nicht alles gesagt haben. Es wäre zu verlockend gewesen, auf ein Wunder zu hoffen.«
    »Ich weiß, Sie haben die Windmühlen gewählt.« Borodin hatte nicht vor, ihre Selbstsicherheit zu erschüttern, er war nur neugierig. »Um der Gerechtigkeit willen?«
    »Sie meinen das Dossier?« Vera Haas lächelte. »Das hatte nur wenig mit Gerechtigkeit zu tun. Es war eine Tür, die ich zuschlagen mußte.«
    »Und danach?«
    »Bin ich ... gegangen.« Die Frau zögerte. »Ich dachte, es sei vorbei ... aber das war es nicht. Im Gegenteil.« Das Lächeln, das in diesem Moment ihre Züge erhellte, stand in seltsamem Gegensatz zum Ernst ihrer Worte.
    Sie ist ihnen begegnet, dachte Borodin, blieb aber stumm.
    »Ich war allein, allein mit all den Erinnerungen, die einfach nicht verblassen wollten. Dabei hatte ich doch alles getan, um sie endlich hinter mir zu lassen. Vielleicht, dachte ich, ist es nur eine Frage der Entfernung, und so ging ich immer weiter, bergauf, bis die Stadt nicht einmal mehr ein Lichtpunkt im Tal war. Es war kalt dort oben und als Sturm aufkam, mußte ich mich in einer Felsenhöhle verkriechen, um nicht zu erfrieren. Irgendwann bin ich dann wohl eingeschlafen, und als ich aufwachte, war ich nicht mehr allein.«
    »Haben Sie sie gesehen?«
    »Nein, aber ich habe gespürt, daß jemand da war. Jemand, der mir helfen konnte.« Wieder huschte dieses seltsam entrückte Lächeln über ihr Gesicht.
    »Helfen wobei?«
    »Mit meinen Erinnerungen zu leben, ihren Wert zu begreifen. Vielleicht waren sie doch das einzige, das von den Menschen übriggeblieben war, die ich ...« Sie brach ab, als hoffte sie, daß er den Satz für sie zu Ende brachte.
    Doch Borodin schwieg.
    Als sie schließlich fortfuhr, klang ihre Stimme völlig beherrscht: »Ich lernte, meine Erinnerungen wachzurufen, sie zu ordnen und mit ihnen zu teilen. Das klingt vermutlich einfacher, als es ist. In Wirklichkeit ist die Rekonstruktion ein schwieriger und langwieriger Prozeß.«
    »Die Rekonstruktion?«
    »Ja natürlich. Ich setze Bruchstücke zusammen, Bilder, Worte, Gewohnheiten, und wenn es mir gelingt, ist es fast so, als wären sie tatsächlich noch am Leben ... oder wieder«, fügte sie mir einer Spur Unsicherheit hinzu.
    »Und was geschieht dann?«
    »Dann gehe ich zum Meer, sie nennen es Limaron, um sie seiner Obhut zu übergeben.«
    »Es ist kein richtiges Meer«, fügte sie hinzu, als sie Borodins ungläubigen Gesichtsausdruck bemerkte. »eher ein spiritueller Ort.«
    Der Mann sagte nichts. So seltsam diese Geschichte auch klang, hatte er doch keinen Anlaß, an den Worten seiner Besucherin zu zweifeln. Was hätte sie mit einer Lüge auch zu gewinnen? Er versuchte, sich ein Leben vorzustellen, das ausschließlich der Erinnerung gewidmet war. Es gelang ihm nicht. Wie viel Zeit mochte vergangen sein, seitdem er Miriam Green hier getroffen hatte? Drei Jahre, fünf oder mehr? Er wußte es nicht. Das Spiel gegen den übermächtigen Gegner hatte sein Zeitgefühl ausgelöscht. Wie viel von ihrer Schuld hatte diese Frau inzwischen abgetragen, indem sie die Fragmente aus dem Leben jener Menschen zusammensetzte, für deren Schicksal sie glaubte, verantwortlich zu sein? Und wie viele waren noch übrig? Wie oft mußte sie sich noch auf den Weg machen zu jenem magischen Ort, an dem die Schatten sie erwarteten? Er wußte es nicht. Er wußte nur, daß er eine solche Last nie würde tragen können ...
    »Sie sind eine tapfere Frau«, sagte er schließlich und wunderte sich über den heiseren Klang seiner Stimme.
    Niemand antwortete.
    Als er aufblickte, war der Platz, an dem die Frau gestanden hatte, leer. Vera Haas war verschwunden, wie sie gekommen war – lautlos und ohne Spuren zu hinterlassen.
    Doch als der Mann zur Tür ging, spürte er einen Moment lang einen warmen Hauch, der wie eine flüchtige Liebkosung über seine Haut strich.
    Nikolai Borodin lächelte. Er wußte jetzt, weshalb die Frau ihren Namen so seltsam betont hatte. Es war ein Anagramm: Vera Haas stand für Ahasvera – die ewige Wanderin. Und vielleicht war sie immer noch hier ...
    »Danke«, sagte er leise.
    Dann trat er hinaus in die klare, frostige Luft des neuen Tages.
     

Der Bibliothekar
     
    »Ich wollte, du würdest es dir noch einmal überlegen, John.« Die Stimme der Frau klang angespannt, aber es lag kein Vorwurf darin.
    Der

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