Die Schatten des Mars
das Schweigen.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Miriam zögernd. »Vielleicht habe ich etwas anderes erwartet. Daß Sie erstaunt sein würden oder zornig ...«
»Und das hätte Ihnen geholfen?«
»Nein, wahrscheinlich nicht, aber es hätte mir die Möglichkeit gegeben, Ihnen zu erklären ...«
»Würde das etwas ändern?«
»Nein«, sagte Miriam leise. »Sie halten mich für schuldig.«
»Wegen Tomkin?« Borodin schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht. Ich bin sogar überzeugt, daß Sie in gutem Glauben gehandelt haben. Damals. Später ist er Ihnen dann wohl verlorengegangen – der gute Glaube, meine ich.«
»Wie kommen Sie darauf?«
Miriam spürte den Blick des Mannes auf sich ruhen und war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob sie die Antwort hören wollte. Doch als sie kam, war es fast wie ein Echo ihrer eigenen Überlegungen.
»Weil Sie sonst nicht hier wären, Mrs. Green«, sagte Borodin, ohne die Stimme zu heben. »Sie müssen eine Entscheidung treffen. Ihr Problem sind nicht die anderen, sondern das, was Sie mitgenommen haben von dort. Ich kann es Ihnen nicht abnehmen, nicht einmal einen Teil davon. Den Weg müssen Sie allein finden.«
Miriam dachte darüber nach und fragte dann leise, beinahe ängstlich: »Gibt es denn einen?«
Ihr Gegenüber nickte und lächelte dann: »Natürlich. Die Frage ist nur, wohin er Sie führt und was Sie d a nach sein werden.«
»Und wenn er nirgendwohin führt, der Weg, meine ich?« Es war nicht Miriam Green, die diese Frage stellte, sondern jenes Mädchen in ihr, das nie aufgehört hatte, sich vor der Dunkelheit zu fürchten.
»Dann haben Sie sich verlaufen«, antwortete der Mann, und es war, als ob dabei ein Schatten über seine Züge huschte. »Oder den Mut verloren, was schlimmer wäre.«
Danach schwiegen sie beide.
»Ich habe Angst«, sagte Miriam nach einer Weile. Sie versuchte ein Lächeln, um ihren Worten die Endgültigkeit zu nehmen. »Dabei weiß ich noch nicht einmal, wovor ich mich mehr fürchte.«
»Vor dem Kampf gegen Windmühlen oder der Einsamkeit«, erwiderte Borodin, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
Miriam starrte ihn überrascht an.
Woher wissen Sie das? wollte sie fragen, biß sich aber im letzten Augenblick auf die Lippen. Borodin war Schachspieler, gewohnt, seine Gegner zu analysieren. Vielleicht war es doch nur ein Schuß ins Blaue gewesen ...
»Entschuldigung.« Ihr Gastgeber lächelte nachsichtig. »Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Außerdem haben Sie sich vermutlich schon entschieden.«
»Entschieden, wofür?« Wieder überkam Miriam ein seltsames Gefühl von Unwirklichkeit. Wie konnte sie von einem Fremden die Antwort auf eine Frage erwarten, die sie sich selbst schon hundertmal vergeblich gestellt hatte?
Er gab sie dennoch.
Als Miriam Green gegangen war und ihre Silhouette allmählich mit der Nacht verschmolz, trat eine Frau aus dem Schatten zu dem Mann am Fenster.
Nikolai konnte ihre Nähe spüren wie einen warmen Windhauch, der den Duft des Sommers in sich trug.
»Du hattest recht, Tanjuschka«, sagte der Mann, ohne sich umzudrehen. »Sie hätte es nicht verstanden, und am Ende hätte es sie nur noch trauriger gemacht.«
Das Borodin-Dossier schlug wie eine Bombe im Netz ein. Obwohl die Behörden sofort reagierten und Unmengen von S&D-Bots auf seine Spur setzten, gelang es ihnen nicht, die Verbreitung zu stoppen.
Ausgehend von einem Dutzend unabhängiger Informationsdienste fand die Datei ihren Weg in Tausende von Blogs und Communities und unter tatkräftiger Mithilfe regierungskritischer Hacker sogar in die Angebots- und Downloadbereiche kommerzieller Anbieter. Dabei wechselte sie in raschester Folge ihre äußeren Eigenschaften wie ein Chamäleon die Farbe. Der brisante Inhalt blieb jedoch unverändert und erwies sich auf Grund einer neuartigen kryptographischen Sicherung als weitgehend manipulationssicher. Auf die Schnelle produzierte Falsifikate kamen zu spät in Umlauf, um der Glaubwürdigkeit des Originals ernsthaft zu schaden.
Obwohl die großen Netzwerke und Mainstream-Medien das Dokument totschwiegen, kam es in einigen europäischen Staaten sogar zu Parlamentsanfragen, die sich nicht nur auf das Borodin-Attentat, sondern auch auf andere im Dossier geschilderte Todesfälle teils prominenter Persönlichkeiten bezogen, die gemäß den Recherchen der Autoren Opfer von Geheimdienstoperationen wurden. Offiziell wurden die Vorwürfe zwar stets als »plumpe Fälschungen«, »unverantwortliche
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