Die Schatten des Mars
Verschwörungstheorien« oder »perfide Angriffe auf die Bündnissolidarität« zurückgewiesen, was jedoch nichts daran änderte, daß hinter den Kulissen bereits die Notfallpläne anliefen.
Malcolm O’Leary, Geheimdienstkoordinator der Regierung Perle, starb mit drei seiner engsten Mitarbeiter, als sein Hubschrauber in der Nähe des US-Stützpunktes Bhagram von Rebellen abgeschossen wurde. Offenbar hatte das Anti-Raketen-System versagt.
Bei einer Gasexplosion in einem Bürogebäude im Moskauer Presnenski-Viertel starben sechs hochrangige FSB-Mitarbeiter, darunter auch Oberst Juri Trifonow, ehemaliger Leiter der Abteilung »Sonderermittlungen«.
Bei einem Testflug in der israelischen Negev-Wüste kam ein Marschflugkörper vom Typ Deliah II vom Kurs ab und traf einen Kommandobunker, wobei mehrere Personen getötet wurden.
Im Virginia raste ein Tanklastzug in ein von einem privaten Sicherheitsunternehmen angemietetes Farmgebäude und explodierte, wobei eine zunächst unbekannte Anzahl von Personen zu Tode kam.
Zweifellos hätte die Frau, die sich Miriam Green nannte, das Muster hinter diesen scheinbar unabhängigen Ereignissen erkannt. Doch die hatte Port Marineris längst verlassen.
Auch die beiden freundlichen Mitarbeiter der Einwanderungsbehörde, die sich bei den Nachbarn nach Miriam Green erkundigten, erfuhren nichts, das ihnen weitergeholfen hätte. Diejenigen, die sich überhaupt an die zurückhaltende junge Frau erinnerten, waren ihr schon seit Tagen nicht mehr begegnet. Niemand konnte sich daran erinnern, wann sie ihr Appartement zum letzten Mal verlassen hatte. In der Wohnung selbst wies nichts auf einen überstürzten Auszug hin. Einziges Indiz für einen möglicherweise geplanten Aufbruch blieb eine merkwürdige Nachricht, die Miriam Green auf dem Desktop ihres Notebooks hinterlassen hatte. Sie bestand aus einem einzigen Wort:
ILICET
Ob es sich dabei um einen simplen Abschiedsgruß handelte oder den Verweis auf eines der gleichnamigen Gedichte von Swinburne oder Carman, konnte nie geklärt werden, und so blieb das letzte Lebenszeichen der Spinnenkönigin ebenso rätselhaft und geheimnisumwoben wie ihr Verschwinden.
Nikolai Borodin allerdings sollte Miriam noch einmal begegnen.
Wie stets war er früh aufgestanden und kurz nach Sonnenaufgang zum Pavillon hinübergegangen, um sich den neuesten Zug anzusehen und eine erste Analyse vorzunehmen.
Doch an diesem Morgen war er nicht allein.
Zunächst war es eher ein vages Gefühl, das seine Konzentration störte, dann eine Stimme, kaum lauter als ein Flüstern. Er erkannte sie dennoch.
»Sie stehen auf Verlust, Weltmeister ...«
»Miriam?«
»Vera«, korrigierte ihn die Stimme, deren Besitzerin er erst jetzt bewußt wahrnahm. Sie stand außerhalb des Spielfeldes inmitten einer Gruppe bereits geschlagener Figuren – eine in einen weiten Umhang gehüllte Gestalt mit schulterlangem dunklen Haar. Ihr Gesicht lag im Schatten, aber es war zu erkennen, daß sie keine Atemmaske trug. Es war nicht mehr die Frau von damals. Wie zur Bestätigung ergänzte sie: »Ich bin Vera Haas.«
»Ändert das etwas?« erkundigte er sich seltsam berührt.
»Ja«, sagte die Frau.
»Dann ist das wohl Ihr Werk?« versuchte er seine Verlegenheit zu überspielen und deutete auf das Schachfeld. Der nächtliche Gegenzug hatte den eigenen Damenflügel tatsächlich erheblich unter Druck gesetzt.
»Natürlich nicht.« Ihr Lachen klang ebenso dunkel wie ihre Stimme. »Nur sahen Sie eben nicht aus wie jemand, der am Gewinnen ist.«
»Ich verliere immer«, gab der Mann zu. »Manchmal kommt es mir vor wie ein völlig neues Spiel.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber Sie sind nicht gekommen, um mir dabei zuzusehen.«
»Nein«, sagte die Frau und trat aus dem Schatten. »Ich wollte Ihnen danken.«
Auf den ersten Blick sah sie der Besucherin von damals immer noch ähnlich, dennoch waren die Veränderungen augenfällig. Ihr Gesicht war hagerer geworden und hatte jetzt etwas Raubvogelhaftes. Gleichwohl wirkte es nicht verhärmt oder gar ausgemergelt. Es erschien sogar ausdrucksvoller, als hätten Sand und Wind alles Überflüssige abgeschliffen und das Wesentliche freigelegt, das ihren Charakter ausmachte. Sie war immer noch schön, aber ihre Schönheit war nicht mehr die der Jugend oder ihres Geschlechts. Sie war fern jedes Begehrens und doch voller Wärme. Es gab kein anderes Wort für das, was Borodin in ihrer Nähe empfand. Ihre dunklen Augen musterten ihn ohne jede
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