Die Schatten des Mars
schwarzes, von grauen Strähnen durchzogenes Haar verbarg das Gesicht beinahe vollständig.
Etwas stimmt nicht mit ihr, dachte Martin beklommen, während er nähertrat und vergeblich auf eine Bewegung – ein Hochziehen der Augenbrauen, ein Stirnrunzeln oder auch nur einen Wimpernschlag – wartete.
Erst als die Frau den Kopf hob, und das Licht auf ihr Gesicht fiel, wurde ihm klar, daß sie eine Maske trug. Doch es war keine jener vergleichsweise primitiven Metallmasken, die ihm aus seinen Träumen vertraut waren. Diese hier schimmerte weiß wie Porzellan, und sie trug eindeutig menschliche Züge.
»Nun setz dich schon. Oder möchtest du, daß wir uns im Stehen weiter unterhalten?« lächelte das Porzellangesicht, das Martin – vielleicht wegen des Schnittes der Augen – an eine chinesische Prinzessin erinnerte. Es war eine wertvolle Maske, dessen war er sich beinahe sicher, obwohl er nichts von diesen Dingen verstand. Wahrscheinlich war das Mädchen, das dem Künstler Modell gestanden hatte, schon seit Jahrhunderten tot, und dieses sanfte, fast verlegene Lächeln war alles, was von ihm geblieben war ...
Obwohl ihm die Vorstellung unheimlich war, entschloß sich Martin, das Angebot anzunehmen. Vorsichtig ließ er sich auf den Lederpolstern des ihm zugedachten Sessels nieder und sah sich unauffällig um. Das gesamte Mobiliar des Raumes bestand aus den beiden Sesseln und einem runden Holztisch. Die einzige Lichtquelle waren die Kerzen auf einem dreiarmigen Leuchter. Ihr Licht spiegelte sich auf dem polierten Holz und beleuchtete Intarsien, die auf kunstvolle Weise in die Tischplatte eingearbeitet waren. Es waren Masken, und nicht eine davon ähnelte der anderen. Das gleiche Motiv war auf den roten Samtvorhängen und dem schweren Perserteppich zu erkennen.
»Danke«, erwiderte der Junge schließlich, »wo bin ich hier eigentlich?«
»Das ist keine gute Frage«, erwiderte die Porzellanprinzessin nachsichtig. »Die richtige müßte lauten: Wo werde ich sein? In zehn, zwanzig oder noch mehr Jahren? Das möchtest du doch wissen, oder?«
Möchte ich das wirklich? fragte sich Martin, dem allmählich dämmerte, daß er es mit einer Wahrsagerin zu tun hatte. Die Erinnerung kehrte nur bruchstückhaft zurück, und er hatte noch immer keine Vorstellung, wie er an diesen seltsamen Ort gelangt war.
»Und wo werde ich sein?« erkundigte er sich schließlich schulterzuckend.
»Das steht in deiner Hand geschrieben«, erwiderte die Maske. »Doch ich muß dich warnen: Du könntest Dinge erfahren, die unangenehm sind.«
»Sie wollen mir aus der Hand lesen?« erkundigte sich Martin skeptisch. Immerhin war er fünfzehn Jahre alt und alles andere als leichtgläubig.
»Was sonst? Deshalb bist du doch hier.« Die Maskenfrau schien sich ihrer Sache sicher zu sein.
Martin schwieg. In seiner Erinnerung war ein Bild aufgetaucht, ein goldglänzender Schriftzug auf rotem Untergrund: Die Herrin der Masken liest Ihre Z u kunft ...
Eine Jahrmarktsbude! Das mußte es sein. Aber war er wirklich hergekommen, um sich aus der Hand lesen zu lassen? Auch wenn er nach wie vor Zweifel hegte, hatten ihn die Worte der Wahrsagerin nachdenklich gemacht. Was, wenn sie tatsächlich in der Lage war, aus den Linien seiner Hand die Zukunft vorauszusagen? Vielleicht gab es sie wirklich, die Lebenslinie und all die anderen Schicksalslinien, die nur der Eingeweihte zu deuten wußte ...
»Hast du etwa Angst?«
»Angst?« Martin verzog die Lippen zu einem verächtlichen Lächeln. »Wovor?«
Die Maske lächelte stumm.
Im gleichen Augenblick begriff Martin, daß er einen Fehler gemacht hatte. Er hätte sich nicht provozieren lassen dürfen. Jetzt konnte er nicht mehr zurück.
Entschlossen richtete er sich auf und legte seinen rechten Arm mit der Handfläche nach oben auf den Tisch: »Bitte.«
»Also gut«, murmelte die Maskenfrau und griff nach seinem Handgelenk. »Mut ist eines der zahlreichen Privilegien der Jugend.«
Ihre Haut war warm und fühlte sich an wie trockenes Leder. Die Frau mußte weitaus älter sein, als Martin zunächst angenommen hatte.
Dennoch verrieten ihre Bewegungen keinerlei Unsicherheit. Wider Willen fasziniert beobachtete Martin, wie sich die ausgestreckten Finger ihrer Rechten seiner Handfläche näherten, ohne sie zunächst zu berühren. Er hatte erwartet, daß sich die alte Frau nach vorn beugen würde, um besser zu sehen, aber ihre Haltung blieb unverändert.
Doch erst als ihre Fingerkuppen über seine Handfläche glitten und
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