Die Schatten des Mars
sie Zoll für Zoll abtasteten, begriff er, daß die Maskenfrau nicht mit den Augen sah.
Sie ist blind!
»Es muß dir nicht unangenehm sein«, versetzte die alte Frau gelassen. »Es gibt viele Arten der Blindheit, und das Fehlen des Augenlichts ist bei weitem nicht die schlimmste.«
Sie kann Gedanken lesen! Am liebsten wäre Martin aufgesprungen und davongerannt. Aber wohin? Und war es nicht lächerlich, sich vor einer blinden, alten Frau zu fürc h ten?
Bemüht, seine Unsicherheit zu verbergen, lehnte er sich zurück und wartete auf das Ende der Prozedur.
Es kam schneller als erwartet.
Einen Augenblick lang verharrten die Fingerspitzen der Wahrsagerin auf der Stelle, dann löste sich plötzlich der Griff um Martins Handgelenk.
Beunruhigt zog Martin seine Hand zurück und betrachtete stirnrunzelnd das Areal, das die Maskenfrau zuletzt berührt hatte. Es war nichts Auffälliges zu sehen.
»Ich will dir die Wahrheit sagen, Junge«, erklärte die alte Frau nach kurzem Zögern, »obwohl du mir vermutlich nicht glauben wirst.«
Martin blieb jedoch keine Zeit, über ihre Worte nachzudenken. Erschrocken starrte er auf ihr Gesicht, das sich auf unheimliche Weise verändert hatte.
Es war eine neue Maske, das wurde ihm einen Augenblick später klar, die das Gesicht der Wahrsagerin in eine weiße und eine schwarze Hälfte teilte. Davon ausgenommen waren nur die Lippen des traurigen Mundes, die blutrot, wie frisch geschminkt, glänzten. Doch das Gespenstischste waren die Augen: schräg angesetzte ovale Löcher, hinter denen nichts zu erkennen war. Es fiel Martin schwer, sich ein Gesicht hinter dieser Maske vorzustellen, auch wenn der Eindruck der dunklen Augenhöhlen möglicherweise nur auf der Wirkung von Licht und Schatten beruhte. Was ihn allerdings noch mehr irritierte, war der Umstand, daß er den Wechsel der Masken nicht bemerkt hatte.
Wie war so etwas möglich?
»Wer die Nacht kennt, muß den Tag nicht fürchten«, erklärte die Maskenfrau eindringlich. Es klang wie eine Beschwörung. »Das solltest du niemals vergessen.«
»Warum?« erkundigte sich Martin, der seinen Blick nicht von der Maske abwenden konnte, die ihn mit einer Mischung von Mitgefühl und spöttischer Überlegenheit zu mustern schien.
»Weil es Tage geben wird, an denen dir das Licht sehr fern erscheinen wird«, entgegnete die alte Frau.
Was meint sie damit? fragte sich Martin, den ein ungutes Gefühl beschlich. Was auch immer die Wahrsagerin damit andeuten wollte, es war bestimmt etwas Unangenehmes ...
»Du wirst drei Meere durchqueren«, fuhr die Stimme fort. »Sie werden Spuren hinterlassen und dich auf die Prüfung vorbereiten.«
»Welche Prüfung?«
»Auf die Prüfung, mein Junge«, erwiderte die Maskenfrau mit sorgfältiger Betonung. »Du wirst dich ihr stellen, wenn du die alte Welt erreicht hast.«
Wovon redet sie überhaupt? dachte Martin verwirrt. We l che alte Welt?
»Ich verstehe nicht«, sagte er schließlich, als das Schweigen drückend wurde.
»Ich weiß«, versetzte die alte Frau. »Aber du solltest begreifen, daß es keine Zufälle gibt. Die Ereignisse folgen einem bestimmten Muster. Es ist ein kompliziertes Muster und manchmal kaum zu erkennen, zumal für einen Jungen wie dich. Aber es ist immer vorhanden.«
»Und was bedeuten die drei Meere?«
Die Wahrsagerin antwortete nicht sofort. Einen Augenblick lang schien es Martin, als habe die Maske ihren Ausdruck geändert, aber das war unmöglich. Sicher lag es nur an dem unruhigen Licht, daß der rot geschminkte Clownsmund jetzt noch trauriger aussah.
»Schmerz, Zorn und Dunkelheit.« Die Worte fielen wie Steine in den halbdunklen Raum. Ein kühler Luftzug streifte den Nacken des Jungen und ließ ihn frösteln.
Ich hätte nicht fragen dürfen, dachte er und biß sich auf die Lippen.
»Nein, Junge«, widersprach die Stimme. »Es ist gut, daß du gefragt hast. Auch wenn dein Wissen zunächst keinen Einfluß auf die Geschehnisse haben wird. Aber eines Tages wirst du dich erinnern und danach handeln.«
»Aber bis jetzt weiß ich doch gar nichts!« wandte Martin ein.
»Schmerz bedeutet, daß man dir wehtun wird«, erklärte die Maskenfrau ernst. »Du wirst Menschen verlieren, die du liebst. Manche für immer ...«
Dad! war alles, was Martin denken konnte. Er wird ste r ben.
» ... und andere für sehr lange Zeit«, fuhr die Stimme fort, aber der Junge hörte sie nicht mehr.
Er stand neben seiner Mutter auf einem der endlosen Gänge des Martin-Reed-Krankenhauses und
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