Die Schatten des Mars
schwach nach Öl. Die weinroten Plüschpolster waren an einigen Stellen verblichen, aber peinlich sauber. Lena versank fast darin, als sie sich zurücklehnte.
»Ein Wolga, nicht wahr?« erkundigte sich Lena, obwohl sie den Schriftzug natürlich gelesen hatte. Sie wollte nicht mehr über Polizisten oder Straßensperren sprechen. Lena hatte selbst keine Angst oder nur ein ganz klein wenig, aber sie spürte, wie unangenehm Sergej das Thema war.
Doch bevor Sergej etwas sagen konnte, meldete sich Freund Sascha, der inzwischen seinen Platz hinter dem Lenkrad eingenommen hatte, zu Wort:
»Klar doch, ein GAZ 3111, damals das Beste vom Besten. Davon wurden insgesamt nur dreihundert Stück gebaut – ausschließlich für Funktionäre!«
»Für Funktionäre wie euch?« erkundigte sich Lena spöttisch.
Der große Mann schüttelte energisch den Kopf.
»Natürlich nicht«, kam ihm Sergej zu Hilfe. »Der Wagen stand jahrelang ungenutzt in der Garage des ehemaligen Direktors. Sascha hat ihn wieder auf Vordermann gebracht.«
»Das stimmt!« bestätigte der Fahrer erleichtert. »Und Sie werden sehen, er fährt wie ein neuer!«
»Danke, Sascha«, sagte Lena und warf Sergej einen amüsierten Blick zu. Vor ihnen hatte sich der Miliz-Jeep in Bewegung gesetzt, und der fast fünf Meter lange Wolga folgte ihm gutmütig schaukelnd auf die holperige Auffahrt.
Sascha hatte nicht zuviel versprochen. Die betagte Limousine entpuppte sich als ein durchaus komfortables Fortbewegungsmittel. Die Stoßdämpfer schluckten die Unebenheiten der Fahrbahn anstandslos, und die Geschwindigkeit entschädigte für das etwas aufdringliche Geräusch des Dieselmotors. Bald hatten sie die Stadtgrenze hinter sich gelassen und waren eingetaucht in die endlosen Wälder des mittelrussischen Tieflandes. Weißbuchen, Espen und Birken – kilometerlang, ohne die Spur einer menschlichen Ansiedlung.
Hin und wieder lichtete sich der Wald ein wenig und gab den Blick auf die Oberfläche schilfbedeckter Seen frei. Nichts schien sich verändert zu haben in all den Jahren, nicht die Wälder, nicht die Seen und Flüsse und erst recht nicht die Menschen ...
»Ein Herr Dawidenko möchte Sie sprechen«, hatte die Dame von der Rezeption gesagt, und natürlich hatte Lena damit gerechnet, einen weiteren Journalisten oder Verehrer a b wimmeln zu müssen. Als sie Sergejs Stimme erkannte, hätte sie beinahe den Hörer fallen lassen. Sie klang so vertraut, als hätten sie sich erst gestern zum letzten Mal gesprochen. Wie war so etwas mö g lich?
»Sergej, bist du es wirklich ...«, stammelte Lena – auf Englisch, wie ihr einen Augenblick später klar wurde. N a türlich korrigierte sie sich sofort, aber die Scham über den unbewußten Mißgriff brannte tief. Was sollte er nur von ihr denken – einer Frau, die in einer 2000-Dollar-Suite wohnte und ihre Muttersprache verleugn e te?
Sie trafen sich in der Bar, die in ihrem ungeniert zur Schau gestellten Luxus selbst Lena ein wenig ei n schüchterte. Trotz der frühen Stunde und vermutlich exorbitanter Preise waren die meisten Plätze besetzt. Dennoch e r kannte sie Se r gej sofort.
Er hat sich gar nicht verändert , war ihr erster Geda n ke, aber das war natürlich Unsinn. Es waren seine A u gen, die sie erinnert hatten – blaugraue Augen, in d e nen die Freude über das Wiedersehen leuc h tete ...
Sie hatte seine Hand gedrückt, die ihr größer und wärmer erschienen war als damals, und sich zu ihm g e setzt. Sie hatten über dieses und jenes gesprochen, n a türlich über ihr Gastspiel im Bolschoi und die gedämpft euphorischen Kritiken in den Morgenzeitungen. E r staunt registrierte Lena, wie gut sich Sergej in ihrem Metier auskannte. Er wußte nicht nur, wo und wann sie in den letzten Jahren aufgetreten war, sondern kannte auch das genaue Repertoire der jeweiligen Aufführu n gen. Offensichtlich hatte er sie nie aus den A u gen ve r loren ...
Dann bestellte Sergej Sekt – Krimsekt, was den Kel l ner zu einem leichten Anheben der Augenbrauen vera n laßte, und sie tranken auf ihr Wiedersehen. Natürlich ahnte Lena, daß Sergej nicht zufällig gekommen war, hütete sich aber, ihn daraufhin anzusprechen. Irgen d wann würde er es ihr von selbst sagen ...
Einstweilen genoß sie es, Russisch zu sprechen und für ein paar u n wirkliche Minuten wieder das Mädchen aus Melenki zu sein, das sich mit seinem Freund unte r hielt. Zu lange hatte sie all ihre Energie darauf ve r wendet, etwas anderes zu sein, in die Rollen
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