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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank W. Haubold
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sich, aber die Umarmung vermochte die Kälte nicht zu vertreiben. Nicht mehr. Martin sah dem Mädchen nach, bis es im Haus verschwunden war. Dann begann er zu laufen, verhalten zunächst, beinahe noch unentschlossen, dann aber immer schneller. Er war ein geübter Läufer, und seine Beine fanden ihren Rhythmus wie von selbst.
    Vier Schritte, einatmen. Drei Schritte, ausatmen.
    Er hätte nicht mitzählen müssen, aber solange er zählte, brauchte er an nichts anderes zu denken. Nicht an den Anruf, der seinen Vater so seltsam verändert hatte, nicht daran, daß er sich einfach hatte wegschicken lassen ...
    Nicht denken! Zählen, atmen, laufen.
    Er begegnete niemandem auf seinem Weg durch die stillen Straßen der Südvorstadt. Es war längst nach Mitternacht, in den wenigsten Fenstern brannte noch Licht.
    Du kannst nichts tun, hatte Anna gesagt. Dabei hatte sie noch nicht einmal etwas von dem Anruf gewußt ... Nein, tun konnte er nichts, nur laufen.
    Die Seabrook-Bibliothek. Martin kam oft hierher, verbrachte Stunden zwischen den endlosen Regalen oder im dämmrigen Lesesaal, in dem es nach alten Büchern, Staub und Möbelpolitur roch. Jetzt war es nicht mehr weit. Nur noch die Hampton Road hinauf und dann nach rechts ...
    Was würde er finden?
    Das Haus mit den drei Holzgiebeln lag still im Schatten der alten Bäume, die Straße und Grundstück trennten. Nirgendwo brannte Licht, auch nicht im Garten, soweit Martin das erkennen konnte. Vielleicht lagen seine Eltern längst im Bett. Vie l leicht.
    Martins Schritte wurden langsamer, sein Atem ging keuchend. Der lange Anstieg forderte seinen Tribut.
    Die Gartenpforte war unverschlossen. Kies knirschte unter seinen Füßen. Ein aufdringliches Geräusch, fast so laut wie das Dröhnen des Pulses in Martins Schläfen. Der Junge ging weiter, er mußte sich Gewißheit verschaffen. Jetzt.
    Die Terrasse lag im Schatten, und es dauerte ein wenig, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
    Er ist hier.
    Der Junge wußte es, noch bevor er die im Rollstuhl zusammengesunkene Gestalt seines Vaters tatsächlich wahrnahm. Der Tote war nicht allein. Mom war bei ihm. Vielleicht hatte sie etwas gehört, oder sie hatte nach ihm sehen wollen, als das Feuerwerk vorbei war.
    Jetzt wußte Martin, worüber sein Vater mit dem Mann am Telefon gesprochen hatte. Und Charlene Lundgren, die reglos dasaß, das Gesicht in den Händen verborgen, wußte es wohl auch.
    Vorsichtig trat der Junge näher, ängstlich bemüht, jedes Geräusch zu vermeiden. Es waren seine eigenen Eltern, dennoch kam er sich wie ein Eindringling vor, wie jemand, der etwas beobachtete, das nicht für ihn bestimmt war.
    In diesem Augenblick flammte im Hausflur Licht auf, ein Streifen davon fiel hinaus auf die Terrasse.
    Erik Lundgrens Gesicht sah friedlich aus, als sei er nur für einen Augenblick eingenickt. Das kleine, dunkle Loch über seiner Nasenwurzel entdeckte der Junge erst später. Sein Vater war keines natürlichen Todes gestorben, aber das war nicht mehr wichtig. Wichtig war nur das stille, fast zufriedene Lächeln, mit dem er gegangen war, ohne Angst ...
    Es war eine besondere Art von Stille, die die beiden einhüllte, und noch immer wagte der Junge nicht, sie zu stören. Er fragte sich, warum er keine Trauer empfand, jetzt, da sein Vater tot war. Man mußte doch trauern, wenn jemand gestorben war, oder nicht?
    Der gelbe Lichtstreifen wurde plötzlich breiter.
    Betty stand in der Tür: »Mom, Dad, wo seid ihr? Was ist denn los!?«
    Die Stille zersprang wie eine Seifenblase.
    Es war vorbei.
    Wortlos ging Martin an seiner Schwester vorbei ins Haus und rief die Polizei.
     

Die Tänzerin
    Le Sacre du Printemps
     
    Ich muß den Verstand verloren haben, dachte Lena, als die letzten Wohnblöcke des Ljubertsi-Viertels hinter ihnen zurückblieben. Was jetzt noch kam, waren Schrottplätze und verlassene Fabrikgebäude mit staubblinden Fenstern.
    »Nur bis zur Stadtgrenze«, hatte der Taxifahrer geknurrt, obwohl ihn niemand um etwas anderes gebeten hatte. »Ich verliere sonst meine Lizenz.«
    Vielleicht war es ja tatsächlich der Respekt vor der Obrigkeit, der den Mann zu seiner Bemerkung veranlaßt hatte, wahrscheinlicher war, daß er Angst um sein Auto hatte. Hier draußen wirkte das frisch geputzte Mercedes-Taxi, mit dem er sie am Kempinski abgeholt hatte, wie ein Eindringling aus einer fremden Welt. Die meisten Autos, die sie unterwegs überholt hatten, sahen dagegen aus, als wären sie niemals neu gewesen. Einige

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