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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank W. Haubold
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derer zu schlüpfen, die sie auf der Bühne verkörperte: Giselle, Cinderella, Medora, Nikija, Julia und natürlich die u n ve r meidliche Odette-Odile in »Schwane n see«.
    Sie sahen einander an, manchmal heimlich und manchmal so, daß sich ihre Blicke begegneten, und fanden nichts, was ihnen unvertraut war. Fast schien es, als seien die Jahre spurlos an ihnen verübergega n gen. Natürlich sprachen sie auch über Melenki und ihre gemeinsame Zeit, vermieden aber jegliche Anspielung auf alles, was nach Lenas We g gang geschehen war. Zwar hätte sie gern gewußt, wie es Sergej seitdem e r gangen war, aber etwas in seinem Blick hinderte sie daran, ihn danach zu fragen. Und vielleicht ha t te er sogar recht: Solange sie nicht daran rührte, hatte die Zeit keine Macht über sie – über sie beide.
    Sie saßen, redeten und tranken, und es war gewiß nicht nur die Wirkung des Alkohols, die Lena allmä h lich in jenen leicht schwebenden Z u stand versetzte, in dem die Realität zurücktritt und Unmögliches erreic h bar scheint. Die Freude über das unverhoffte Wiede r sehen mischte sich mit dem Gefühl, etwas wiedergefu n den zu haben – etwas, dessen Fehlen sie nie bemerkt hatte, und das sie auch jetzt noch nicht mit Sicherheit benennen konnte. Geborgenheit vielleicht.
    Als die Flasche fast leer war und ihr Vorrat an A l bernheiten e r schöpft, kam Sergej erneut auf Melenki zu sprechen. Lena hörte ihm zu und lächelte geschme i chelt, als er berichtete, wie stolz man in ihrer Heima t stadt auf sie war. Daß die Stadtverwaltung sogar ein spezielles Archiv eingerichtet ha t te mit Dokumenten über ihre Karriere. Ein wenig reizte sie der Gedanke, den Ort ihrer Kindheit irgendwann einmal wiederzus e hen. Aber weder ihre Hochstimmung noch ihre Eitelkeit oder die Sehnsucht nach Heimat hätten Lena jemals dazu gebracht, dem aberwitzigen Vorschlag zuzusti m men, den ihr Sergej schließlich unterbreitete. Daß sie es dennoch tat, hatte einen einzigen Grund: Es war die Art, wie er sie a n sah. Im Spiegel seiner Augen war sie wieder jung ...
     
    Kurz nachdem sie ein verschlafenes Örtchen namens Gschell passiert hatten, stießen sie auf die erste Straßensperre. Ein Soldat mit Helm und schußsicherer Weste schwenkte eine rotblinkende Handleuchte und bedeutete ihnen mit einer Geste, im Schrittempo weiterzufahren. Etwa fünfzig Meter weiter blockierte ein querstehender Jeep die Hälfte der Fahrbahn. Die Soldaten daneben trugen Kampfanzüge und hielten ihre Waffen im Anschlag. Den Panzerwagen bemerkte Lena erst später. Er stand halb im Unterholz verborgen und ähnelte in seinem gedrungenen Aufbau einem bösartigen Reptil. Aus der flachen Stirn über den Augenschlitzen ragte – einem Stoßzahn gleich – eine großkalibrige Kanone.
    Sascha, der Fahrer, pfiff durch die Zähne. »SIMA-12-Plasmastrahler, Reichweite 400 Meter, Maximaltemperatur im Vernichtungssektor: 8000 °C.« Der große Mann schien sich nicht nur mit Autos auszukennen.
    »Halt die Klappe, Sasch«, versetzte Sergej ärgerlich. »Wen interessiert das schon.«
    »‘Tschuldigung«, murmelte der Hüne verlegen und wurde rot wie ein kleiner Junge.
    Mittlerweile hatte das Milizfahrzeug den Kontrollpunkt erreicht und angehalten. Der Beifahrer reichte etwas nach draußen, das Lena aus der Entfernung nicht erkennen konnte. Auf jeden Fall schien es seine Wirkung nicht zu verfehlen. Der Wachtposten salutierte, und die Soldaten ließen ihre Waffen sinken. Der Jeep durfte weiterfahren, und Sergejs Wagen wurde ohne Kontrolle durchgewinkt.
    Dennoch hatte die Szene etwas Surreales. Zwischen Birkenwäldern, Sümpfen und Dörfern, in denen die Zeit stehengeblieben zu sein schien, wirkten die Soldaten mit ihrer High-Tech-Ausrüstung wie Wesen von einem fremden Stern.
    »Sie bewachen die Brücke«, sagte Sergej wie zur Entschuldigung. Was Lenas Unbehagen allerdings kaum minderte. Was war das für ein Land, in dem Flammenwerfer benötigt wurden, um Brücken zu schützen? Die Antwort war ebenso naheliegend wie deprimierend ...
    »Sollen wir besser umkehren?«
    Lena zuckte zusammen. War sie so leicht zu durchschauen, oder lag es daran, daß sie sich von Kindheit an kannten?
    »Nein«, antwortete sie nach kurzem Zögern, und das war die Wahrheit. Aus beruflicher Sicht war das, was sie vorhatte, zweifellos eine Dummheit. Der Verwaltungsrat und erst recht die Sponsoren würden außer sich sein, wenn sie davon erfuhren. Vielleicht würde sie sogar eine Vertragsstrafe zahlen müssen. Aber

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