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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank W. Haubold
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zogen eine schmutziggraue Rauchschleppe hinter sich her wie eine qualmende Lunte. Nicht mehr lange, und sie würden das Schicksal der rostzerfressenen Wracks teilen, die sich abseits der Schnellstraße zu endlosen Schrottgebirgen türmten.
    Dennoch schienen hier selbst die Müllplätze noch irgendwelche Kostbarkeiten zu bergen, denn die meisten waren mit Maschendraht eingezäunt und die Zufahrten mit Schranken gesichert.
    Vor einem Pförtnerhäuschen standen Männer in Wattejacken um eine Blechtonne, in der ein Feuer brannte. Sie sahen nicht aus, als warteten sie auf etwas, sondern standen einfach nur da und starrten mit gesenkten Köpfen in die Glut. Die Szene hatte etwas Unheimliches, und es dauerte ein wenig, bis Lena einfiel, woran sie sie erinnerte. Es war ein Bühnenbild: Strawinskis »Le Sacre du Printemps« – alte Männer, die regungslos dem Todestanz eines Mädchens zusahen. Würde sie die Rolle noch einmal bekommen? Wahrscheinlich nicht. Lena war sechsundvierzig Jahre alt und würde vermutlich nicht mehr lange Prinzipaltänzerin bleiben. Francois hatte ihre Nachfolge mit Sicherheit längst geregelt. Wenn er herausfand, worauf sie sich eingelassen hatte, würde es wohl noch etwas schneller gehen ...
    »Tut es dir leid?« Sergej schien ihre Gedanken gelesen zu haben. Sie konnte seinen besorgten Blick förmlich spüren, wagte es aber nicht, ihm in die Augen zu sehen. Sergej, der wie ein Geist aus der Vergangenheit plötzlich in ihrem Leben aufgetaucht war.
    »Nein, es ist nur so ...« Lena brach ab. Was sollte sie sagen, ohne Sergej zu verletzen? Schmutzig? Grau? Trostlos? Natürlich gab es schönere Städte, Paris, Mailand, Rom, und gepflegtere wie München oder Salzburg, wo die Häuser wie frisch gestrichen strahlten. Aber der Vergleich war nicht fair. Sie hatte Glück gehabt, sehr viel Glück. Die Männer in den grauen Wattejacken hatten nie eine Chance bekommen.
    »... russisch«, ergänzte Sergej lächelnd. Seine Augen strahlten sie an wie damals, als sie beide vierzehn Jahre alt gewesen waren – und verliebt. Er hatte sie mit stiller Beharrlichkeit umworben, dankbar für jedes Lächeln, jede Berührung, selbst für die Erlaubnis, sie begleiten zu dürfen. Sie waren ein paarmal zusammen unterwegs gewesen, und ein oder zweimal hatten sie sich geküßt. Zu mehr war es nicht gekommen. Als Lena weggegangen war, hatte er ihr noch lange geschrieben – jede Woche einen Brief voller Belanglosigkeiten und Zukunftsträume, aus denen nie etwas werden sollte. Sie hatte es gewußt, aber nie den Mut besessen, es ihm zu sagen. Wie hätte sie ihm dabei in die Augen sehen können?
    Die Aufnahme an die Waganowa-Schule war eine Chance, die nur wenige bekamen, und Lena hatte sie genutzt. Sie übte härter als die anderen und ignorierte die Verlockungen der Großstadt. Manchmal schlief sie im Unterricht ein, weil sie bis nach Mitternacht im Probenraum getanzt hatte. Allein mit der Musik, die nur in ihrem Kopf war. Die anderen Mädchen nannten sie »Murawej« – Ameise. Lena lachte, als sie davon hörte. Sie brauchte keine Freundinnen, sie brauchte ein Engagement. Und sie bekam es. Am Mariinskij, nicht an irgendeinem Provinztheater im Ural. Vermutlich hätte sie aber auch das akzeptiert, wenn es nicht anders gegangen wäre. Nur eines hatte sie sich geschworen. Sie würde nicht mit leeren Händen nach Melenki zurückkehren. Als Verliererin. Lena wußte nur zu gut, wie es Verlierern ergeht.
    Sergej ahnte nichts von dem, was in ihr vorging. Vermutlich hatte er damals wie die meisten anderen geglaubt, daß Lenas Mutter an einer Magenblutung gestorben war. Und daß ihr Vater auf Montage war, wenn er manchmal für Monate verschwand.
    Lena beantwortete Sergejs Briefe nur selten. Manchmal schrieb sie ihm monatelang nicht in der Hoffnung, er würde irgendwann aufgeben. Doch seine Briefe kamen weiter, und ihr wurde klar, daß sie eine Entscheidung treffen mußte. Also schrieb sie ihm ein letztes Mal: Es täte ihr leid, aber er solle nicht länger auf sie warten. Sie würde Rußland verlassen, sobald sich eine Möglichkeit dazu ergäbe. Alles Liebe. Lena.
    Die Antwort traf vierzehn Tage später ein und bestand aus zwei Worten: »Viel Glück!« Lena weinte ein bißchen und nahm ein paar Monate später das Angebot eines holländischen Vermittlers an, der ihr die ersten sechs Monatsgagen ihres zukünftigen Engagements an einem Bostoner Tanztheater für ein Flugticket und gefälschte Papiere abknöpfte. Aber das spielte keine Rolle. Es

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