Die Schatten des Mars
Erschöpfung spürte. Manchmal blieb er stehen, ging in die Hocke und berührte mit seinen Fingerspitzen den Boden. Der Sand war festgebacken und fühlte sich warm an. Nein, eigentlich war es das Fehlen jeglicher Temperaturwahrnehmung, das der Mann als Wärme empfand. Deshalb fror er auch nicht, obwohl er nackt war.
Der Mann lief weiter, seine Beine hatten mittlerweile ihren Rhythmus gefunden, so daß es beinahe schien, als liefe er von selbst.
Wie lange bin ich eigentlich schon unterwegs?
Da der Mann sich nicht am Stand der Sonne orientieren konnte, die sich irgendwo hinter den leuchtenden Dunstschleiern verbarg, blieb die Frage unbeantwortet. Offenbar fehlten in dieser Welt nicht nur die Kontraste, sondern auch der gewohnte Wechsel zwischen Tag und Nacht. Wenn es keine Möglichkeit gab, die Zeit zu messen, dann war sie letztendlich bedeutungslos. Der Mann dachte darüber nach und erschrak.
Dennoch lief er weiter. Seine Beine trommelten ihren Rhythmus auf den roten Sand, der irgendwo da vorn in einen ebenso roten Himmel überging.
Der Mann war schon einige Zeit unterwegs, als er in der Ferne einen dunklen Fleck wahrzunehmen glaubte. Er blieb stehen, rieb sich die Augen und schaute wieder nach vorn. Der Fleck war immer noch da.
Mit neuer Hoffnung lief der Mann weiter. Dabei ließ er den dunklen Fleck nicht aus den Augen.
Schließlich war es nicht mehr nur ein Fleck, sondern ein quaderförmiges Gebilde, das aussah, als schwebe es frei in der Luft. Näherkommend erkannte der Mann, daß es sich um eine Art Wagen handelte, einen Wohnwagen vielleicht oder einen fahrbaren Verkaufsstand.
Ungeduldig beschleunigte er seinen Schritt, bis er schließlich Einzelheiten erkennen konnte. Vor ihm, beinahe zum Greifen nah, stand ein bunt gestrichener Verkaufswagen, über dessen Fenster ein schwarzes, mit goldenen Lettern bemaltes Schild prangte: »Emilio Francetti – Seifenblasen«.
Obwohl der Mann noch nie eine Fata Morgana zu Gesicht bekommen hatte, begann er in diesem Augenblick an der Glaubwürdigkeit seiner Wahrnehmungen zu zweifeln. Sein Gemütszustand und der bunte Jahrmarktswagen inmitten der roten Wüste schienen alle Voraussetzungen für ein derartiges Phänomen zu besitzen. Gleich würde das Trugbild verschwinden ...
Doch nichts dergleichen geschah.
Ungläubig strich er mit der Hand über die lackierten Bretter, fühlte Nagelköpfe und die zarten Streifen, die der Malerpinsel hinterlassen hatte. Daß seine Hände ebenso unsichtbar blieben wie der Rest seines Körpers, minderte sein Hochgefühl nur unwesentlich.
Die Klappe des Verkaufsfensters war offen, so daß der Mann in den Innenraum sehen konnte. Der Anblick verschlug ihm beinahe den Atem, denn die Wände des Wägelchens waren mit schwarzem Samt ausgeschlagen, und auf den stufenförmigen Auslagen schillerten Hunderte von Glaskugeln in allen Farben des Regenbogens. Zudem hatte er den Eindruck, als befänden sich hinter dem Verkaufsraum noch weitere Räume, deren Wände ebenfalls bis an die Decke mit blitzenden Kugeln vollgestopft waren. Die Anordnung erinnerte ihn an ein Bild, das er irgendwo gesehen hatte, auf dem ein gemalter Spiegel das gleiche Bild mit einem wiederum gemalten Spiegel zeigte, und auf diese Weise eine enorme Tiefe suggerierte. Wahrscheinlich beruhte die Anordnung der Kugeln auf einer ähnlichen optischen Täuschung.
Was den Mann allerdings noch mehr faszinierte, war das Innere der gläsernen Kugeln. Irgend etwas schien sich darin zu bewegen, auch wenn er auf Grund der Entfernung nicht erkennen konnte, was.
Das Knattern eines Motors riß ihn aus seinen Betrachtungen. Der Mann fuhr herum und erblickte ein merkwürdiges Gefährt, das sich in zügiger Fahrt seinem Standort näherte. Die Räder hinterließen keinerlei Spuren, so daß der Eindruck entstand, als schwebe der Wagen irgendwo zwischen Himmel und Erde. Das Trommelfeuer aus dem Auspuff des altertümlichen Rennwagens wurde rasch lauter, und bald konnte der Mann Einzelheiten erkennen: Die Sitze des schwarzen Cabriolets waren mit rotem Leder gepolstert, und am Steuer saß ein elegant gekleideter Mann mit Lederkappe und Rennfahrerbrille, die den größten Teil seines Gesichts verbargen.
Einige Meter vor dem Verkaufswagen verstummte das infernalische Geräusch, und das Gefährt rollte langsam aus. Der Fahrer schob seine Brille nach oben und winkte dem Mann zu.
Wieso kann er mich sehen? fragte sich der Mann, winkte aber dennoch halbherzig zurück.
»Benvenuto, amico mio, willkommen in
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