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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank W. Haubold
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der Tasse war abgewetzt, doch es war eine Tasse mit Untertasse, keiner der Pötte, die man preisreduziert in Ein-Euro-Läden bekam.
    »Möchten Sie darüber reden?« fragte Madame Martin, nachdem sie den Kaffee eingegossen hatte.
    Sylvie schüttelte den Kopf. Die Frau sah sie an, abwartend. Sylvie seufzte. Was hatte sie schon zu verlieren?
    »Adrienne war vier, als sie eine Angina bekam. Am Anfang schien alles ganz normal. Jedes Kind bekommt mal eine Angina. Aber es war nicht normal. Die Ärzte nannten es einen atypischen Verlauf …« Die Antibiotika hatten nicht angeschlagen, keines. Das Fieber war gestiegen. Anfangs hatte Adrienne noch geschrien. Dann hatte sie nur noch gebettelt. Ich will wieder g e sund sein, Mama. Und es gab nichts, was Sylvie hätte tun können. Zuletzt hatte sie ihre Tochter auf der Intensivstation gesehen. Schläuche führten in sie hinein, Kabel wanden sich auf dem weißen Laken. Adriennes Gesicht war fast durchsichtig gewesen; die Knochen traten hervor.
    Als Sylvie am nächsten Tag ins Krankenhaus kam, war Adrienne bereits tot. Sie war gestorben, während Sylvie auf der Stadtautobahn im Stau feststeckte. Adrienne. Was da so still auf dem Bett gelegen hatte, ohne blinkende Automaten und piepsende Meßgeräte, hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem kleinen Mädchen, das Sylvie kannte. Einen Moment lang hatte sie das Gefühl gehabt, man habe sie versehentlich zu einem ganz fremden Kind geführt. Aber da war die Narbe an der Hand, wo Adrienne die heiße Herdplatte angefaßt hatte, und der kleine Leberfleck unter dem linken Auge.
    Madame Martin war eine gute Zuhörerin. Gelegentlich sagte sie »oh« oder »Ja, das ist schlimm«, aber eigentlich schwieg sie nur, rührte lautlos in ihrem Kaffee und sah Sylvie aufmerksam an.
    »Ich hätte Sie nicht anschreien dürfen«, schloß Sylvie. »Es ist schließlich nicht Ihre Schuld. Aber das alles war so ungerecht.«
    »Es steht nirgends geschrieben, daß das Leben gerecht sein müßte«, erwiderte Madame Martin ernsthaft.
    »Nein. Nein, da haben Sie wohl recht. Vielen Dank, daß Sie sich die Zeit genommen haben. Und für den Kaffee.«
    Noch während sie in ihre Wohnung hinüber ging, faßte Sylvie einen Entschluß. Ihr Leben mußte sich ändern. Hier, wo jeder Baum, jede Stockente im Stadtgraben und jedes hellblaue Sommerkleid an Adrienne erinnerte, wo jeder quietschende Kinderwagen Bilder heraufbeschwor, konnte sie nicht bleiben. Sie hatte die Wohnung gewechselt, aber es hatte nicht geholfen. Selbst Australien wäre wohl nicht weit genug gewesen.
    Sie mußte an einen Ort, an dem es weder Kinderwagen noch Stockenten gab, und sie kannte nur einen: den Mars.
     
    Vielleicht bewirkte bereits die Hektik der Vorbereitungen eine Veränderung. Nach drei Jahren der Trauer, in denen sich Sylvie mehr und mehr in sich zurückgezogen hatte, in denen der Schmerz stärker statt schwächer geworden war, hatte sie plötzlich wieder ganz alltägliche Probleme. Der Hausrat mußte aufgelöst, die wenigen persönlichen Dingen zusammengepackt, die Reise organisiert werden. Keiner nahm Rücksicht darauf, daß sie vor drei Jahren ihr Kind verloren hatte. Auf dem Flug gab es keine Einsamkeit, ja kaum Privatsphäre. Sylvie gelang es nie, länger als ein paar Minuten irgendwo zu sitzen, ohne daß sich wildfremde Leute zu ihr gesellten, Leute mit Zukunftsplänen und Visionen und eigenen Erfahrungen, die sie ihr unbedingt erzählen mußten. Fast alle legten einen anstrengenden Optimismus an den Tag.
    In Port Marineris änderte sich das nur wenig. Sylvie hatte keine Mühe, Wohnung und Arbeit zu finden. Auch auf dem Mars brauchte man Logistikspezialisten, vielleicht nötiger als irgendwo sonst, und sie hatte nichts verlernt. Ja, man schien geradezu auf sie gewartet zu haben. Verwundert stellte sie fest, daß es ihr Spaß machte, wieder zu arbeiten. Keiner wußte, was sie durchgemacht hatte, also erinnerte sie auch niemand mit verständnisvollem Verhalten daran.
    Erst nach zwei Wochen begriff sie, daß die Begeisterung, mit der die Raumhafenverwaltung sie aufgenommen hatte, weniger mit ihren Fähigkeiten als mit ihrem Geschlecht zu tun hatte. Es gab inzwischen Frauen auf dem Mars, ja, aber die meisten waren als Ehefrauen ihren Männern gefolgt. Eine Zeitlang konnte sich Sylvie vor Angeboten kaum retten, doch nach und nach verlor auch der hartnäckigste Verehrer den Mut. Sie hatte nicht vor, sich auf einen Mann einzulassen. Ein Mann führte fast zwangsläufig zu der Frage, ob man eine

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