Die Schatten des Mars
Und das ist ganz bestimmt eins davon ...
Dennoch zögerte er, seinen Fund zu berühren, als fürchtete er, daß er sich im gleichen Augenblick in Luft auflösen würde. Doch nichts dergleichen geschah. Die Oberfläche des Rumpfes fühlte sich glatt und kühl an wie polierter Marmor.
Es war ein Boot aus Stein.
Ungezählte Jahre hatte es auf Grund gelegen, bis der Fluß schließlich ausgetrocknet war, und der Wind den versteinerten Rumpf freigelegt und blank geschliffen hatte wie das Gerippe eines vorzeitlichen Ungeheuers.
Martins Versuch, das Boot umzudrehen, scheiterte bereits im Ansatz. Es ließ sich keinen Millimeter von der Stelle bewegen. Zwar hätte er gern einen Blick in das Innere geworfen, aber das war im Grunde gar nicht nötig. Die Feuerstelle im Heck würde ohnehin kaum Spuren hinterlassen haben, und an weitere Einzelheiten erinnerte er sich nicht. Außerdem hatte er nicht den geringsten Zweifel, daß es ein Boot wie dieses gewesen war, mit dem ihn der fremde Junge damals zum Hafen gebracht hatte. Daß sich das alles nur in seinen Träumen ereignet hatte, spielte dabei keine Rolle – jetzt nicht mehr.
Die Ereignisse folgen einem bestimmten Muster.
Noch war Martin weit davon entfernt, dieses Muster zu erkennen oder gar in die Zukunft zu schauen, wie es die Herrin der Masken vermocht hatte. Aber die Entdeckung des Bootes hatte ihm Mut gemacht. Und dort, wo er hinging, würde er vermutlich mehr davon brauchen, als er jemals besessen hatte.
»Okay, ich bin ja schon soweit«, rief er in Meropes Richtung, die bereits ungeduldig an der Führungsleine zerrte. »Du hast wohl keine Probleme mit deinen Träumen ...«
Die Vorstellung, daß Doktor Fromberg seine Schöpfungen mit einem Satz artgerechter Standardträume ausgestattet haben könnte, vielleicht von Hundekuchen oder Briefträgerbeinen, amüsierte ihn. Für kurze Zeit wich die Anspannung aus seinen Zügen und machte einem jungenhaften Lächeln Platz. Dann tauchten sie erneut in den Schatten der Felswände ein, und seine gute Laune verflog.
Obwohl sich seine Augen nach einigen Sekunden an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bereitete es ihm zunehmend Mühe, dem Leittier zu folgen. Das graue Dämmerlicht ließ die Konturen verschwimmen, so daß er gezwungen war, sein Tempo der eingeschränkten Sicht anzupassen.
Er hatte sich bereits damit abgefunden, den Rest des Weges im Dunkeln zurücklegen zu müssen, als er einige Dutzend Meter voraus einen schwachen Lichtschimmer bemerkte. Der Lichtfleck wurde rasch heller, und Martin wurde bald klar, daß es sich dabei um einen Zugang nach draußen handelte.
Noch war die eigentliche Öffnung nicht sichtbar. Erst nachdem sie eine weitere Schmalstelle passiert hatten, wichen die Wände des Cañons plötzlich zurück und gaben den Blick auf ein beeindruckendes Panorama frei.
Zu Martins Überraschung befanden sie sich jedoch nicht auf freiem Gelände, wie er auf Grund des ungehindert einfallenden Tageslichts angenommen hatte, sondern in einer weiteren Schlucht beziehungsweise einer gewaltigen Bruchstelle, deren Ausdehnung sich nur schwer schätzen ließ.
Innerhalb des Geländes ragten Felsgebilde jeder nur vorstellbaren Form und Ausdehnung – Säulen, Türme, Quader, Kegel – in teilweise schwindelerregende Höhe empor. Die meisten ruhten auf riesigen Geröllhalden, die ihrerseits eine Art Gebirgslandschaft bildeten.
Natürlich hatte Martin seinerzeit das damals verfügbare Bildmaterial von den Valles Marineris studiert, aber die Satellitenaufnahmen vermochten die Realität nicht einmal annähernd wiederzugeben. Aktuelle Bilder gab es seines Wissens kaum. Die Erforschung des Gebietes war vor ein paar Jahren eingestellt worden, als ein Geologenteam in einen Sandsturm geraten und nicht zum Stützpunkt zurückgekehrt war. Acht Frauen und Männer, die mit einem Thunderbelt-Radpanzer unterwegs gewesen waren – einem 60 Tonnen schweren Koloß mit Clarithantrieb und Sicherheitszelle. Jetzt verstand Martin, weshalb das Fahrzeug nie gefunden worden war ...
Die Valles waren eine Landschaft, für die die menschlichen Sinne nicht eingerichtet waren. Hier existierte nichts, das als Vergleichsmaßstab hätte dienen können, nichts, das dem Betrachter vertraut war, nichts, das das Gefühl der Verlorenheit mildern konnte, das er angesichts der gigantischen Abmessungen dieses auf den ersten Blick völlig chaotisch anmutenden Areals empfand.
Er fragte sich, ob das vielleicht der Grund gewesen war, weshalb man ihn an diesen Ort
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