Die Schatten des Mars
Martin beinahe mit der Hand gegen die Stirn geschlagen hätte: Sie wußte es von ihm!
Wenn sie in der Lage war, ihn mit Schuldgefühlen und Erinnerungen zu konfrontieren, dann besaß sie Zugang zu seinem Bewußtsein und folglich auch zu dem, was er hörte oder sah. Von dieser Erkenntnis bis zur Lösung seines Problems war es dann nur noch ein kleiner Schritt ...
»Okay, Großmaul«, murmelte Martin. »Spielen wir eben eine Runde Blinde Kuh!« Dann nahm er all seinen Mut zusammen und marschierte mit geschlossenen Augen direkt hinein in das Herz der Finsternis.
Obwohl viel für seine Theorie sprach, war es ein Marsch ins Ungewisse. Martin konnte seinen Pulsschlag hören, ein dumpfes Dröhnen in den Schläfen, das mit jedem Schritt lauter wurde. Seine Muskeln spannten sich in Erwartung des Schmerzes, der ihn jeden Augenblick zurückschleudern konnte. Die fremde Intelligenz hatte sein Vorhaben mit Sicherheit längst durchschaut, die Frage war allein, ob sie sich an die Regeln halten würde. Obwohl Martin davon überzeugt war, daß sie einen ausgeprägten Sinn für Regeln und Symbolik besaßen, fühlte er sich wie ein Soldat auf dem Weg durch ein Minenfeld.
Dennoch ging er weiter, wagte jedoch nicht, die Augen zu öffnen. Mechanisch setzte er einen Schritt vor den anderen, bis der Boden unter seinen Füßen plötzlich nachgab und er in die Tiefe stürzte.
Erschrocken riß er die Arme nach oben, doch der befürchtete Aufprall blieb aus. Statt dessen spürte Martin, wie sich die Geschwindigkeit seines Sturzes verringerte. Fast schien es, als hätte die Dichte der Luft um ihn herum so zugenommen, daß sie seinen Fall aufhielt und ihn sanft nach unten schweben ließ.
Ein irritierendes Gefühl von Déjà-vu löschte alle anderen Empfindungen aus. Der Eindruck, das alles schon einmal erlebt zu haben, war so überwältigend, daß er sich der Bedrohlichkeit seiner Situation kaum mehr bewußt wurde.
Ohne Überraschung oder gar Furcht sah er eine graue Nebelwand auf sich zustürzen, in die er nur Sekunden später eintauchte. Ein Teil von ihm hatte fest mit ihrem Erscheinen gerechnet. Über seine Umgebung und die Tiefe des Abgrunds konnte er allerdings nur Vermutungen anstellen. Dichte Nebelschwaden verhinderten weiter jegliche Orientierung. Martin breitete die Arme aus und spürte, wie der Luftwiderstand stärker wurde. Einen Augenblick später lichtete sich der Nebel und gab den Blick auf die Umgebung frei.
Der schwarze Fluß! dachte Martin fast unbeteiligt, als hätte er nie etwas anderes erwartet. Erst unmittelbar vor dem Aufprall gewann er seine Geistesgegenwart zurück, riß die Arme nach vorn und rollte sich zur Seite ab.
Das Ufer war nur ein paar Schritte vom Ort seiner Landung entfernt. Immer noch ein wenig benommen starrte Martin Lundgren auf die dunkle Wasserfläche, die vollkommen reglos schien. Der Fluß war breit – so breit, daß er das jenseitige Ufer nur als schmalen, leuchtenden Streifen erkennen konnte.
»Hallo Martin!«
Die Stimme klang seltsam vertraut.
Der Junge mit der Maske.
Martin wußte es, noch bevor er die schmale, zerbrechlich wirkende Gestalt tatsächlich wahrnahm. Der Junge stand hinter einem kleinen Felsvorsprung, seine Silhouette hob sich kaum vom Schwarz der Wände ab.
Er muß gewußt haben, daß ich komme, dachte Martin beklommen. Weshalb wäre er sonst hier?
»Warte, ich mache uns Licht«, sagte der Junge und beugte sich etwas nach vorn. Es gab ein knisterndes Geräusch wie von einer elektrischen Entladung, dann loderte zu seinen Füßen ein grün sprühendes Feuer auf. »Komm, du hast einen weiten Weg hinter dir.«
Das klang nicht unfreundlich, und so folgte Martin der Einladung des Fremden und setzte sich zu ihm ans Feuer. Schweigend starrte er in die Flammen und genoß das Gefühl, heimgekehrt zu sein. Wie oft bin ich wohl hier gewesen, damals? Martin wußte es nicht, und es war im Grunde auch nicht wichtig. Wichtig war allein, daß er jetzt hier war, daß er ihn wiedergefunden hatte, diesen Ort ...
»Ist es noch weit?« erkundigte er sich, nachdem er seine Hände symbolisch an dem kalten Feuer gewärmt hatte.
»Nein, nicht sehr weit«, erwiderte der Junge nach einigem Zögern. »Willst du schon aufbrechen?« Es klang wie: Bist du bereit?
Darauf wußte Martin keine Antwort, und so versuchte er erst einmal, Zeit zu gewinnen: »Ich möchte vorher gern noch etwas wissen ... bevor wir gehen, meine ich.«
»Frag!«
Der unverbindliche Ton der Aufforderung irritierte Martin und
Weitere Kostenlose Bücher