Die Schatten des Mars
Die Ablehnung ihres Antrags hatte Miriam mißtrauisch gemacht. Warum hatte man ihr den Fall entzogen, kaum daß sie erste Ergebnisse vorweisen konnte? Und was war das für eine »andere Abteilung«, die den Fall weiter bearbeitet hatte?
Später – als sie die Antworten kannte – gratulierte sich Miriam zu ihrer damaligen Entscheidung, nicht alle Ergebnisse ihrer Recherchen weiterzuleiten. Die Person des Eindringlings hatte sie nicht herausfinden können, wohl aber das Netzwerk, von dem aus er operierte. Zwölf Jahre lang hatte sie ihre Erkenntnisse für sich behalten, aber Nikolai Borodin hatte ein Recht auf die Wahrheit ...
Das Haus stand auf einem kleinen Plateau oberhalb eines geröllbedeckten Hanges, der keinerlei Weg oder Zufahrt erkennen ließ. Der Aufstieg war entsprechend mühevoll gewesen, und Miriam atmete schwer unter ihrer Osmosemaske, die Nase, Wangen und Kinn wie eine zweite Haut bedeckte. Sie wartete, bis sich ihr Herzschlag ein wenig beruhigt hatte, und trat dann unschlüssig näher. Das Wohngebäude selbst war ein profaner Zweckbau aus Fertigteilen, der sich mit seinem rostbraunen Anstrich kaum von der Umgebung abhob. Auffällig war einzig der beleuchtete gläserne Anbau – ein Gewächshaus vielleicht –, der ihr während des Aufstiegs den Weg gewiesen hatte. Im Näherkommen erkannte sie, daß es sich um eine Art Pavillon handelte, dessen aufwendige Gestaltung sie ebenso überraschte wie der Umstand, daß sich im Inneren die Umrisse mehrerer Personen abzeichneten. Wenn Nikolai Borodin tatsächlich in Gesellschaft war, dann widersprach das allem, was Miriam in der Stadt über die Gewohnheiten der Leute draußen gehört hatte.
Ihr Irrtum offenbarte sich erst, als sie so weit näher getreten war, daß sie einen Blick durch die Fensterscheiben werfen konnte. Was sie für eine Ansammlung von Personen gehalten hatte, entpuppte sich als eine Gruppe von Skulpturen, Schachfiguren genaugenommen, die auf einem beleuchteten Spielfeld angeordnet waren.. Offenbar bestanden die weißen Felder des überdimensionalen Schachbretts aus Sonnensteinen, die den gesamten Innenraum des Pavillons mit bernsteinfarbenem Licht erfüllten. Die weißen Figuren schimmerten wie polierter Marmor, während die schwarzen wie Obsidian glänzten. Jede Figur war bis ins Detail herausgearbeitet: Rösser bäumten sich bedrohlich auf, Läufer schwangen ihre Speere und Türme erhoben sich machtvoll über das Schlachtgetümmel. Dominiert wurde die Szenerie jedoch von den alles überragenden Gestalten der Königspaare – die Damen amazonenhaft stolz wie Ebenbilder der antiken Penthesilea, die Könige gebieterisch und unnahbar. Das Kunstwerk mußte ein Vermögen gekostet haben, und Miriam fragte sich, ob ein einzelner Mensch überhaupt in der Lage war, die schweren Skulpturen zu bewegen. Aber es mußte wohl möglich sein, denn die Position der Figuren deutete auf eine laufende Partie hin ...
»Beeindruckend, nicht wahr?«
Erschrocken fuhr Miriam herum und sah sich der hochgewachsenen Gestalt des Hausherrn gegenüber, der unbemerkt hinter sie getreten war. Es war tatsächlich Borodin, der Ex-Weltmeister, und er wirkte weder hinfällig noch gebrochen, wie Miriam insgeheim befürchtet hatte. Mehr noch: Er schien kaum gealtert zu sein in den letzten Jahren und trug keinerlei sichtbare Spuren seiner Verbrennungen.
»Nikolai Borodin?« erkundigte sie sich, nicht weil es der Bestätigung bedurft hätte, als vielmehr um ihre Verlegenheit zu überspielen.
»Wen haben Sie denn erwartet, Mrs. ...?« erwiderte der Hausherr mit einem Lächeln. »Frankenstein?«
Trotz des leicht spöttischen Tonfalls glaubte Miriam eine Spur Bitterkeit herauszuhören. Borodin trug zwar keine Atemmaske, dennoch war sein Gesichtsausdruck im dämmrigen Zwielicht nur schwer zu deuten.
»Wunderschöne Figuren«, erwiderte sie ausweichend. »Spielen Sie damit gegen sich selbst?«
»In gewisser Weise schon.« Die Doppeldeutigkeit der Antwort wurde Miriam erst bewußt, als Borodin fortfuhr. »Die Figuren sind übrigens ein Geschenk, das ich mir erst noch verdienen muß.« Die Stimme des Weltmeisters klang jetzt nachdenklich, fast ein wenig verlegen.
»Aber immerhin spielen Sie ja schon eine Weile damit«, beharrte Miriam und deutete auf die Figuren hinter der Glaskuppel. Erst danach fiel ihr ein, daß sie sich noch nicht vorgestellt hatte.
»Entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit. Mein Name ist Miriam Green, und ich hoffe, daß Sie mir mein unangekündigtes
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