Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schatten eines Sommers

Die Schatten eines Sommers

Titel: Die Schatten eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lia Norden
Vom Netzwerk:
Klassenkameradin hätte sein können. Wie viele von damals mochten niemals hier rausgekommen sein? Und was um Himmels willen hatte sie hier gehalten?
    Ich hatte Dorit gesagt, dass die Geschichte für mich abgeschlossen war. Ich hatte sie aufgeschrieben. Fortgeschrieben. Aber nun, während der Wagen in den Schatten einer alten Eichenallee eintauchte, ergriff es mich wieder. Die unerträgliche Enge. Der Hass auf alle und alles. Und das Gefühl, die Dinge in die Hand nehmen zu müssen, damit etwas geschah, irgendetwas, damit
es
, was auch immer es war, endlich ein Ende nehmen würde.
    Ich konzentrierte mich auf den Hunger, den ich langsam spürte. Ich war bereits am Morgen aufgebrochen, auf der Autobahn jedoch in einen Stau geraten und mittlerweile seit fünf Stunden unterwegs. Früher hatte es in einigen der Dörfer einen Schlachter gegeben oder einen Bäcker, manchmal sogar einen kleinen Lebensmittelladen. Keines der Geschäfte existierte noch. Aber als ich um die nächste Kurve bog, sah ich in der Ferne ein großes Supermarktschild. Einer der Bauern musste viel Geld damit gemacht haben, seinen Acker zu verkaufen. Ich beschloss kurz anzuhalten, um mir ein Sandwich zu holen. Und einen Kaffee. Wenn sie überhaupt welchen hatten. Ich bog auf den Parkplatz und stellte den Motor aus. Als ich die Wagentür öffnete, schlug mir die Mittagshitze entgegen. Ich beeilte mich, in den Laden zu kommen, und atmete erleichtert auf, als ich den kühlen Eingangsbereich betrat. Vor den Drehkreuzen gab es tatsächlich einen Bäcker, der auch Kaffee verkaufte. Ich stellte mich in der Schlange von Kunden an, die geduldig warteten. Die rundliche Verkäuferin nahm sich Zeit für jeden, auch die Wartenden plauderten miteinander, alle hier kannten sich. Gegenüber, an den Supermarktkassen, schwatzten die Kassiererinnen mit ihren Kundinnen, zu Hause warteten nur die Wäschekörbe und Bügeleisen, kein Grund zur Eile also. Die Schlange vor mir rückte etwas voran, ich warf einen Blick auf die Kuchenauslage und überlegte, wie viele Kalorien der mächtige, puddinggefüllte Streuselkuchen haben mochte. Ich hatte moppelig ausgesehen auf dem Bild neulich in der Zeitung. Als ich wieder zu den Kassen schaute, sah ich eine alte Frau im Rollstuhl. Sie war klein und dürr und kramte mit gesenktem Kopf umständlich in ihrem Portemonnaie herum. Es war falsch, ich hätte mich abwenden sollen, unbedingt, aber ich starrte zu ihr hin, bis sie zur Kassiererin aufsah, ihr mit zitternden Händen das Geld reichte und ich erkennen konnte, dass sie es nicht war.
    «Bitte, was kann ich für Sie tun?»
    Als die Verkäuferin mich ansprach, rief ich es fast vor Erleichterung: «Einen Kaffee, bitte. Und Streuselkuchen! Zwei Stück Streuselkuchen!»
    Ich nahm auch noch Sahne. Viel, viel Sahne. Wie damals.

[zur Inhaltsübersicht]
    MARIE
    Natürlich war der Tag nach Mamas Anruf und den «wunderbaren Neuigkeiten» über Katharinas erneute Schwangerschaft für mich gelaufen. Manchmal bildete ich mir ein, dass die ewigen Vergleiche mit meiner perfekten Schwester mich nicht mehr tangieren konnten, sondern wie Wasser an mir abglitten. Aber so war es nicht. Es tat weh. Immer noch, immer wieder. Wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit.
    Als Lea nach Hause kam, war mein eilig zubereitetes Mittagessen angebrannt und meine Laune auf dem Tiefpunkt. Ihre schien auch nicht besser. Warum auch? Seit Wochen hatte meine Tochter eine Art Abonnement auf schlechte Laune. Pubertät eben … Eine knappe Begrüßung murmelnd, warf sie ihre Tasche auf einen Stuhl, um dann sogleich zum Herd zu stürzen und misstrauisch in den Backofen zu gucken. Ihre Mundwinkel verzogen sich.
    «Broccoliauflauf!! Voll eklig!»
    Mit fünfzehn findet man im Grunde alles eklig, außer vielleicht Salat, Obst, Nudeln, Pommes und Schokolade. Lea griff sich einen Apfel und verschwand in ihrem Zimmer. Also nahm ich nur für mich einen Teller aus dem Schrank, füllte den angebrannten Broccoli auf und begann lustlos zu essen. Warum war Lea nur so schnell groß geworden? Wann war sie von der kleinen Kuschelmaus zum dauergenervten Teenie mutiert? Früher hatte Lea mir jeden Tag, manchmal drei- oder viermal gesagt, wie lieb sie mich hat. «Guck mal, Mama, soooo lieb!» Dazu hatte sie jedes Mal ihre Arme ausgebreitet, so weit sie nur konnte, und ich hatte sie an mich gezogen, glücklich, sicher, dass diese starken Bande zwischen uns jede künftige Krise überstehen würden, selbst die Pubertät. Natürlich, diese Schwierigkeiten

Weitere Kostenlose Bücher