Die Schatten eines Sommers
begegneten uns zum Glück kaum. Dorit vergrub sich zu Hause, und ich mied nach Möglichkeit alle Orte, an denen wir uns über den Weg laufen konnten, bis auch ich Beerenbök den Rücken kehrte.
Wenn Dorit und ich uns später, bei einem meiner seltenen Besuche bei meiner Mutter, zufällig auf der Straße trafen, winkten wir uns zumeist nur kurz zu, manchmal wurden auch ein paar oberflächliche knappe Worte gewechselt, dann Eile vorgeschützt. Oft hatten wir beide auch einfach so getan, als hätten wir uns nicht gesehen, waren schnell weitergelaufen, den Blick starr geradeaus. Jahrelang war es so gegangen. Bis zu meinem Anruf.
Dorit war überrascht gewesen, als ich mich nach all den Jahren bei ihr meldete. Aber nicht sehr. Vermutlich hatte sie den Grund meines Anrufs sofort geahnt. Ja, wahrscheinlich hätte ich direkt zum Punkt kommen können, ohne lange Vorrede. Aber das war noch nie meine Art gewesen. Ich hatte Konversation gemacht, Dorit höflich nach Haus, Job und Befinden gefragt, danach scheinbar unbefangen von meinem eigenen Leben erzählt, von Thomas und von Lea, von unserem kleinen Reihenhaus und meiner Arbeit in der Bibliothek. Sogar ein paar harmlose Begebenheiten aus unserem Familienleben hatte ich ausgeplaudert, Anekdoten, die Dorit zeigen sollten, dass ich ihr noch immer vertraute, dass ich die «Alte» geblieben war. Schon immer war ich eine Meisterin darin gewesen, anderen das Gefühl zu vermitteln, ihnen zu vertrauen, ihnen ganz allein, und dabei doch nichts von mir persönlich preiszugeben. Während andere mir ihr Innerstes offenbarten, blieb ich selber stets vorsichtig.
Bei unserem Telefonat hatte sich Dorit anfangs tatsächlich auf mein Spiel eingelassen, hatte an den richtigen Stellen freundlich gelacht und das Passende geantwortet, aber irgendwann hatte ich ihre wachsende Ungeduld gespürt. Immer stärker, immer unverhohlener. Bis sie mich schließlich mitten im Satz unterbrochen hatte.
«Lass uns bitte aufhören, Marie! Ich weiß doch, warum du wirklich anrufst. – Es geht um Hanna, stimmt’s? Um das Buch, das sie geschrieben hat.»
[zur Inhaltsübersicht]
FABIENNE
Natürlich zog ich manchmal eine Predigt aus dem Internet, wandelte sie ein bisschen ab, schmückte sie mit einigen aktuellen Bezügen und war froh, Zeit und Mühe gespart zu haben. Man kann nicht Sonntag für Sonntag das Rad neu erfinden. Vor allem, seitdem ich mich auf meine Talkshow vorbereiten musste, blieb mir nichts anderes übrig, als Prioritäten zu setzen.
Aber eine Trauerrede, die kann man nicht einfach runterladen. Die kopiert man nicht. Das muss ein Original sein, erst recht natürlich, wenn man die Tote gekannt hat. Erst recht, wenn es um Dorit ging.
Dorit, die an uns allen gehangen hatte wie eine Klette. Immer gab es irgendein Drama, mit dem wir uns zu beschäftigen hatten. Und sei es nur, dass sie in der Schule neben jemandem sitzen musste, den sie nicht mochte. Für Dorit war so etwas Anlass zu stundenlangem Palaver gewesen.
Manchmal war sie nach der Schule bei uns zu Hause aufgetaucht, weil sie meinen Rat brauchte. Schon am Klingeln erkannte ich, dass sie es war. «Fabienne», hatte sie mit ihrer eindringlichen, fast flehenden Stimme gesagt, «du musst mir helfen!» Sie hatte bei mir auf dem Schlafsofa gesessen und mich mit einer Intensität angeschaut, als wollte sie jedes meiner Worte aufsaugen. Sie hatte sich mir anvertraut, als sie sich das erste Mal unglücklich verliebte. Sie hatte mir von ihrer Angst erzählt, nicht so klug und selbstsicher sein zu können wie andere. Und sie war zu mir gekommen, als ihre Mutter anfing, sich mit einem anderen Mann zu treffen. Ich hatte ihr geduldig zugehört, auch wenn ich sie manchmal hätte schütteln können, aber allein mein Zuhören schien ihr tatsächlich schon zu helfen. Vielleicht war es Dorit, die den Keim für mein Interesse legte, Pfarrerin zu werden, Seelsorgerin. Ein schönes Wort.
Auch Marie hatte mich manchmal um Hilfe gebeten, vor allem, wenn es um die Schule ging. Aber sie war anders. Sie bewunderte mich, weil mir all das zufiel, wofür sie hart arbeiten musste. Aber sie war zurückhaltender als Dorit, schüchterner. Auch wenn sie nach Anerkennung hungerte, musste man nicht gleich befürchten, sie könnte einen verschlingen. Obwohl ich mit Marie am wenigsten Zeit verbrachte, fühlte ich mich in ihrer Gegenwart auf eine entspannte Weise wohler als mit Hanna oder Dorit, die beide etwas ungemein Forderndes hatten.
Hanna war die Anführerin unserer
Weitere Kostenlose Bücher