Die Schatten eines Sommers
mit Lea würden in ein paar Jahren überstanden sein, das war mir durchaus klar. Wenn Thomas und ich uns mit anderen pubertätsgeplagten Eltern austauschten, konnten wir über das Verhalten unserer Sprösslinge sogar lachen, indem wir uns gegenseitig übertrumpften mit Horror-Geschichten. Aber heute konnte ich nicht lachen. Heute fühlte ich mich einfach zum Heulen. Zu meinem Entsetzen spürte ich, dass mir tatsächlich Tränen in die Augen schossen. Ich schob meinen Teller weg und stand auf. Was für ein Tag! Hoffentlich kam wenigstens Thomas nicht so spät aus dem Büro wie in den vorangegangenen Tagen. Ich hatte seinen Trost und seinen unerschütterlichen Optimismus heute wirklich bitter nötig.
Während ich meinen Teller in die Spülmaschine räumte, klingelte das Telefon. Ich reagierte nicht. Um diese Zeit waren ohnehin alle Anrufe für Lea. «Jetzt geh doch endlich dran, Mama!», hörte ich Lea brüllen.
Anscheinend war sie im Bad. Seufzend griff ich zum Telefon.
«Marie, hast du noch mal eben kurz Zeit?»
Meine Mutter, zum zweiten Mal an diesem Tag.
Nein, ich hatte keine Zeit. Vor allem hatte ich keine Lust, mir ihr Gerede heute noch mal anzutun. Mein Bedarf an Verletzungen war mehr als gedeckt. Ich zögerte. Was würde Mama wohl tun, wenn ich jetzt einfach den Hörer auflegte? Ohne ein Wort, ganz still. Kein Zweifel, sie würde natürlich sofort erneut anrufen, ganz klar. Vor Mamas Telefonterror gab es kein Entrinnen, jetzt nicht, heute nicht und überhaupt nie. Was redete sie da eigentlich?
«Weißt du, Marie, ich muss dir etwas sagen. Und … na ja, es ist nicht ganz leicht …»
Ich seufzte innerlich. «Nun sag schon, Mama. Ich hab nämlich wirklich keine Zeit. Ich muss …»
«Kind, die Dorit ist tot!»
Tot.
Dorit?
Ich musste mich verhört haben. Ich wartete darauf, dass meine Mutter weitersprechen würde, sich berichtigte, erklärte. Irgendwas. Aber am anderen Ende der Leitung blieb es still.
«Mama?»
«Ach, Marie, ich hätte es dir wohl schonender beibringen sollen. Aber ich wusste nicht, wie.»
«Dorit ist … tot?!»
Meine Stimme klang, als ob sie nicht zu mir gehörte. Blechern, gedämpft. Emotionslos. Die Nachricht war noch nicht zu mir durchgedrungen. Doch allmählich bahnte sie sich ihren Weg in mein Gehirn. Dorit war tot. Genau wie in Hannas Buch. Hatte sie etwa Schlaftabletten genommen, so wie im Roman? Das konnte, das durfte nicht wahr sein! Ich schnappte nach Luft. Ich hatte das Buch mit wachsendem Entsetzen gelesen. Nackt hatte ich mich gefühlt und verletzlich. Ich verstand es einfach nicht: Wie konnte Hanna die schrecklichen Ereignisse von damals derart hemmungslos für ihre Zwecke missbrauchen? Egoistisch war sie immer gewesen, aber nicht so kaltherzig. Hatte sie denn gar nicht an die eventuellen Folgen gedacht? War es ihr völlig gleichgültig, dass man uns vier vielleicht erkennen würde? – Und nun sollte Dorit tot sein, genau wie ihr Pendant in «Sommer der Sünde» … Ich konnte es nicht fassen.
«Was … was ist denn passiert?» Nur mühsam gelang es mir, die richtigen Worte zu formen und auszusprechen. Meine Mutter hingegen schien sich schon wieder gefangen zu haben. In ihrer Stimme vibrierte bereits eine gehörige Prise Sensationslust.
«Das weiß man noch nicht genau, Marie! Man hat sie im See gefunden, wahrscheinlich ertrunken! Die Polizei war auch in ihrem Haus und hat nach Indizien gesucht.»
«Die Polizei? … nach Indizien …» Meine Stimme, wie ein Echo.
Unwillkürlich sah ich Dorits Haus vor mir. Das Haus, in dem sie fast ihr ganzes Leben verbracht hatte. In dem ich selber so oft ein- und ausgegangen war. In dem wir alle ein- und ausgegangen waren, damals, vor gefühlten hundert Jahren: Hanna, Fabienne und ich. Und nun sollte Dorit tot sein. Blass, kalt, leblos. Vorstellen konnte ich mir das nicht.
War es wirklich erst zwei Wochen her, dass ich mit ihr telefoniert hatte? Ich kramte in meinem Gedächtnis, rechnete nach, als hätte es irgendeine Bedeutung, wann genau wir miteinander gesprochen hatten. Im Grunde spielte es keine Rolle. Jetzt sowieso nicht mehr.
«Marie?»
Meine Mutter schien eine Antwort zu erwarten. Auf was? Ich hatte kein Wort von dem verstanden, was sie zuletzt gesagt hatte.
«Ich habe dich gefragt, ob du zur Beerdigung kommst, Marie! – Ach, Unsinn, natürlich kommst du! Ihr seid doch Freundinnen gewesen, Dorit und du.»
Waren wir das? Früher vielleicht. Da hatten wir uns gegenseitig gebraucht, um gegen Hanna und Fabienne zu
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