Die Schatten eines Sommers
bestehen, um eine Chance zu haben, gegen die Schöne und die Kluge.
Die ständig zur Schau getragene Überlegenheit von Hanna und Fabienne war manchmal nur zu zweit zu ertragen gewesen. Oh, ich erinnerte mich genau: Hatte Hanna wieder einmal mit einer neuen Eroberung geprahlt, einem weiteren Jungen, der angeblich hinter ihr her war – chancenlos natürlich, denn Hanna beachtete Gleichaltrige gar nicht –, dann war es unglaublich wohltuend gewesen, später mit Dorit nach Hause zu radeln und dabei Hannas Geschichte noch einmal durchzuhecheln. Während Dorit und ich anfangs immer noch vorsichtig waren («Sag mal ehrlich, glaubst du wirklich, dass XY sich an Hanna rangemacht hat? Ich kann mir das irgendwie gar nicht vorstellen …»), verloren wir – je länger unsere Fahrt dauerte – zumeist alle Hemmungen. Und wenn ich mein Fahrrad zu Hause in unseren Schuppen schob, fühlte ich mich schon ein bisschen befreiter: So toll war Hanna nun auch wieder nicht! Die Hälfte ihrer Geschichten war sicher erlogen, auf jeden Fall aber stark übertrieben. Und auch Fabienne las vermutlich nicht nur Sartre und Camus, wie sie uns gerne weiszumachen versuchte. Aber es war merkwürdig: Sooft Dorit und ich auch darüber sprachen, dass uns Hannas und Fabiennes Allüren nervten, erwogen wir doch nie wirklich, uns zurückzuziehen. Immer wieder ließen wir uns auf die Verabredungen ein, beschworen die ewige Freundschaft der «Unzertrennlichen», um dann erneut Hannas Geschichten zu lauschen, Fabienne in allem, was sie sagte, zuzustimmen und das amüsierte Publikum zu geben. Es war wie ein Zwang gewesen.
Aber das alles war lange her, sehr lange. Kein Wunder also, dass mein Telefonat mit Dorit vor wenigen Wochen alles andere als eine lockere Plauderei gewesen war, auch wenn wir uns anfangs bemüht hatten, es so klingen zu lassen. Wir waren uns fremd geworden, und dennoch hatte ich durchs Telefon Dorits Erregung gespürt, als ich mich gemeldet hatte. Das Zittern ihrer Stimme war mir selbst nach all den Jahren noch so vertraut, dass ich sie genau vor mir gesehen hatte: zart, blass, das farblose feine Elfenhaar ungekämmt und unscheinbar – bis auf ihre Augen, die immer schon hellblau und groß gewesen waren. Die Dorits starken Willen verrieten, den man auf dem ersten Blick so leicht übersah und der einen später umso heftiger und unvermittelter treffen konnte. Ich erinnerte mich genau an den Hass in Dorits Augen, als sie uns damals von der Affäre ihrer Mutter erzählt hatte. Geradezu hysterisch war sie gewesen, weil ihre Mutter «wissentlich die Familie zerstörte». In Dorits Augen war bis dahin alles ganz wunderbar gewesen, die Familie intakt, die Beziehung ihrer Eltern gut, ja glücklich! Bis quasi aus dem Nichts dieser Arne auftauchte und ihre Mutter wegen ihm alles zerstört hatte, was Dorit bis dahin perfekt erschienen war. Einfach so.
Schon eine Woche, nachdem die Affäre aufgeflogen war, hatte Dorits Vater seine Sachen gepackt und war ausgezogen. Kurz danach hatte sich Arne im Bett von Dorits Mutter breitgemacht. Während Dorit sich im angrenzenden Zimmer das Getuschel, Gekicher und Gestöhne anhören musste, das Quietschen der Matratze, die «Geräusche der Geilheit», wie Dorit es nannte … einfach widerlich! – Das durfte nicht ungesühnt bleiben. Fand Dorit. Und keine von uns hatte ihr widersprochen. So waren die Dinge ins Rollen gekommen.
Nach dem schrecklichen Unfall waren wir Mädchen uns so gut wie möglich aus dem Weg gegangen. Es hatte ohnehin mehr als ein Jahr gedauert, bis Dorits Mutter aus der Reha entlassen worden war. Die ersten Monate hatte Dorit bei ihrem Vater und dessen neuer Freundin in Lübeck verbracht. Aber über den Dorftratsch war regelmäßig zu hören gewesen, dass dieses Zusammenleben ein einziges Desaster war: Angeblich hatte Dorit die neue Beziehung ihres Vaters massiv torpediert und den beiden das Leben schwergemacht. Als die Freundin des Vaters schwanger wurde, hatte sie ihn vor die Wahl gestellt: entweder Dorit. Oder sie und das Baby. Und Dorits Vater hatte sich für die neue Familie entschieden.
Dorit war in eine Jugendwohnung gezogen, um anschließend eine Ausbildung bei einem Beerenböker Futtermittelhändler zu beginnen. So konnte sie sich zu Hause um ihre Mutter kümmern. Als Dorit in unser Dorf zurückkam, war ich als Einzige noch da. Hanna war inzwischen mit ihren Eltern nach Berlin gezogen, Fabienne hatte ihr Abitur auf einem Internat in Süddeutschland gemacht. Dorit und ich, wir
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