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Die Schatten eines Sommers

Die Schatten eines Sommers

Titel: Die Schatten eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lia Norden
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ich ihn auf.
    «Mein Liebstes wurde mir genommen. Unerklärlich. Unvorstellbar.»
    Mein Liebstes? Wahrscheinlich hatte den Text jemand anderes verfasst. Eine der wohlmeinenden Nachbarinnen. Man kümmerte sich umeinander in Beerenbök. Im Guten wie im Schlechten. Ich ging aus dem Haus und setzte mich in mein Stammcafé auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ich brauchte Menschen um mich herum. Ich musste nachdenken. Ich trank einen eiskalten Crémant und gleich noch einen zweiten. Dorit war nicht krank gewesen. Jedenfalls hatte sie mir nichts davon erzählt, bei unserem Telefonat.
    Ich hatte damit gerechnet, dass Dorit sich nach Erscheinen des Buchs melden würde. Es hatte mich nur gewundert, dass nicht auch Marie von sich hatte hören lassen. «Sommer der Sünde», das hätte eigentlich ein Titel sein müssen, der sie reizen sollte. Damals hatte sie einen Groschenroman nach dem anderen verschlungen, und wir hatten uns darüber lustig gemacht. Besonders Fabienne, die immer einen Band von Sartre, Camus oder Adorno mit sich herumtrug. Ich war erstaunt, als ich im vergangenen Jahr ihre Kolumne in diesem evangelischen Magazin entdeckte. Pfarrerin war sie also geworden. Höchst moralisch, das alles.
    Es galt, eine Entscheidung zu treffen. Nach dem dritten Crémant war ich so weit. Ein Mal noch Beerenbök. Natürlich, mich traf keine Schuld. Es musste ein Unfall gewesen sein. Oder eben doch eine Krankheit. Ich hatte Dorit sterben lassen, in meinem Roman, aber kein Mensch würde sich wegen eines Buches umbringen. Dorit schon gar nicht. Ihre Spezialität war es gewesen, alles auf die Spitze zu treiben, so sehr, dass wir es nie ernst nehmen konnten. Keine von uns. So blass und unscheinbar und zurückhaltend sie ansonsten auftrat – sobald Dorit die Chance sah, sich in Gefühlen zu suhlen, tat sie es. Unvermittelt, laut und mit Hingabe. Eine scheinbar ungerecht benotete Klassenarbeit, ein kleiner Streit mit einer Schulkameradin, manchmal reichte schon ein rührseliger Kinofilm wie
Flash Dance
. Sie brauchte das Drama, sie spielte damit und sobald eine Tragödie beendet war, fand sie die nächste. Auch darüber hatten wir uns lustig gemacht.
    Nur dieses eine Mal, in jenem Sommer, hatten wir mitgespielt, weil uns Dorits Kummer um ihre zerbrochene Familie wahrhaftig erschienen war. Wir hatten uns gegenseitig hochgepusht, immer höher, Dorits Spiel weitergetrieben, es inszeniert wie ein Theaterstück.
    Und dennoch, selbst wenn Dorit aufrichtig bekümmert schien – ihre Gefühle hatten mich niemals wirklich berührt. Auch nicht in unserem letzten Telefonat, dem ersten nach fünfundzwanzig Jahren. Ihre Verzweiflung war zu hysterisch gewesen, als dass ich sie ihr abgenommen hätte. «Du wirst schon sehen!», hatte sie geschrien. «Eines Tages wirst du sehen müssen!»
    Ich würde nach Beerenbök fahren, zu Dorits Beerdigung, und es herausfinden. Herausfinden, dass Dorit durch irgendein Unglück ums Leben gekommen war. Ein Unglück, mit dem ich nichts zu tun hatte.
    Ein paar Tage später fuhr ich mit dem Wagen durch die Holsteinische Schweiz. Ich hatte mir ein Hotel in Malente genommen, der Kreisstadt am See. Es war das einzige annehmbare Hotel in der Gegend, das ich im Internet gefunden hatte. In Beerenbök gab es keine Unterkunft, natürlich nicht, bei knapp über zweihundert Einwohnern. Unser Dorf war eines der vielen hier, die so versteckt lagen, dass der Tourismus um die Plöner Seenplatte herum es niemals berührt hatte.
    Eigentlich hätte ich die Bundesstraße nach Malente nehmen können, stattdessen hatte ich eine umständliche Route über die Dörfer gewählt. Wenn ich schon einmal hier war, hatte ich gedacht. Es hatte sich nichts geändert. Die Straßen gesäumt von sattgrünen Wiesen mit schwarz-weißen Kühen, über die Hügel schwangen sich Kornfelder, durchbrochen von grünen Hecken, hin und wieder ein lichter Laubwald. Von Zeit zu Zeit wurde die Straße zur Allee, dicke Eichen bildeten dunkle Tunnel.
    Die Dörfer, die ich durchfuhr, schliefen in der Mittagshitze, wie sie es schon immer getan hatten. Hinter den Vorgärten mit ihren exakten Rasenkanten lagen die gleichen Backsteinhäuser wie damals, nur die Dächer waren frisch gedeckt. So funktionierte es in Amselsang, Buhrenbek, Kleinkuhlen, Schluppel und all den anderen Orten der Gemeinde. Schon immer. Wenn der Nachbar ein neues Dach hatte, musste man nachziehen. Nicht dass es noch Gerede gab. Einmal sah ich eine Frau auf der Straße, die eine alte

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