Die Schatten eines Sommers
vor mich gehalten, um ihn dann entschlossen zurückzuhängen. Anschließend war ich wie an unsichtbaren Fäden gezogen ins Zimmer meiner Tochter geschlichen, um ihren Kleiderschrank systematisch nach einem modischeren Outfit zu durchforsten. Mit sicherem Griff hatte ich diesen engen schwarzen Rock zutage gefördert. Er war aus einem dünnen Stretch-Stoff und passte wie angegossen. Lea und ich hatten die gleiche Kleidergröße. Insgeheim war ich stolz, mit dreiundvierzig noch exakt dasselbe Gewicht zu haben wie als Zwanzigjährige, auch wenn sich die Proportionen seit damals zu meinen Ungunsten verschoben hatten. In der Taille war ich ein paar Zentimeter breiter geworden, aber das fiel in diesem Rock kaum auf. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, war ich in meine schwarzen Pumps geschlüpft (die auch selten zum Einsatz kamen), hatte meine kleine Reisetasche für eine Nacht fertig gepackt und Lea und Thomas einen kurzen Abschiedsgruß geschrieben.
Vorhin hatte ich es für eine gute Idee gehalten, den Rock schon einen Tag vor seinem eigentlichen Einsatz zu tragen. Schön dumm …! Ich seufzte. Warum machte ich mir überhaupt so viele Gedanken darüber, wie ich auf dieser Beerdigung aussah? Kein Mensch würde mir großartig Beachtung schenken. Niemand, der mir etwas bedeutete, würde dort sein. Oder … vielleicht doch? – Wenn ich ganz ehrlich war, hielt ich es irgendwo in meinem Hinterkopf für möglich, dass Hanna oder Fabienne ebenfalls in Beerenbök auftauchen würden. Hanna, um in dramatischer Pose und super gestylt Abschied von einer «sehr lieben alten Freundin» zu nehmen. Fabienne wiederum könnte die Beerdigung zum Anlass nehmen, sich ihrem Heimatdorf als etablierte Pastorin zu präsentieren, die demnächst zu Medienruhm kam. So hatte ich es jedenfalls in der Zeitung gelesen. Genauer gesagt, hatte Mama es mir bei meinem letzten Besuch in Beerenbök unter die Nase gerieben: «Aus deiner früheren Freundin Fabienne ist ja wirklich was geworden! Schau mal hier: Die kommt bald sogar ins Fernsehen!»
Weder Hanna noch Fabienne hatte ich seit jenem verhängnisvollen Sommer wiedergesehen. Ich hatte auch nicht das Bedürfnis danach verspürt. Viel zu viele Erinnerungen. Und keine einzige davon war wirklich angenehm. Na ja, ein paar vielleicht … Die Nacht damals im Hochsommer, die wir draußen am See verbracht hatten. Die war wunderschön gewesen, frei von Zwängen, Eifersüchteleien und Vorbehalten. Auch mit Fabienne hatte es ein paar gute Momente gegeben. Wenn ich allein mit ihr war, was selten vorkam, schien sie sich manchmal zu öffnen und ihre überlegene Rolle aufzugeben. Aber es war immer dasselbe gewesen: Bevor wir uns näherkommen konnten, waren Hanna oder Dorit dazwischengegrätscht. Hanna aus Eifersucht (sie bildete sich ein, das alleinige Recht auf Fabiennes Aufmerksamkeit zu haben) und Dorit, weil sie es nicht ertrug, sich allein zu fühlen. Dorit brauchte immer eine Verbündete, bei der sie sich ausheulen konnte, wenn wieder mal etwas schiefgelaufen war. Und Hanna war für die Rolle der Trösterin denkbar ungeeignet.
Natürlich fand man von Hanna inzwischen diverse Pressefotos, die aber allesamt retuschiert wirkten. Immer leuchteten Hannas zugegeben schöne Katzenaugen allzu grün, während der leichte Ansatz zum Doppelkinn, der sich damals bereits erahnen ließ, auf den aktuellen Fotos wie von Zauberhand verschwunden war. Vielleicht hatte Hanna auch etwas machen lassen. Zuzutrauen wäre es ihr. Dass Fabienne Pastorin geworden war, wusste ich schon länger. Vor ein oder zwei Jahren hatte ich sie im Internet gegoogelt. Inzwischen genügte ihr das reine Pastorinnendasein offensichtlich nicht mehr. Es wunderte mich kein bisschen, dass Fabienne ihren scharfen Verstand und ihre rhetorischen Fähigkeiten nicht nur ihrer kleinen Gemeinde zuteilwerden lassen wollte. Sie hatte schon immer nach Höherem gestrebt. Eine Art «moralische Instanz» in den Medien zu werden, passte sicher perfekt in ihr Lebenskonzept. Mit einer gewissen Befriedigung hatte ich festgestellt, dass weder Fabienne noch Hanna Familie zu haben schienen. Zumindest das hatte nur ich geschafft.
Ob Hanna sich wirklich nach Beerenbök trauen würde? Nach dem Buch, das sie geschrieben hatte und das hier vermutlich jeder Zweite verschlungen hatte?! Oder würde Hanna gerade das spannend finden? Das Spiel mit dem Feuer? Mit den Schatten der Vergangenheit? Das Risiko hatte sie ja nie gescheut. Aber wenn sie es auf andere abwälzen konnte, war
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