Die Schatten eines Sommers
Schreiben. Wie dem auch sei: Rein freundinnentechnisch waren meine Bücher jedenfalls allesamt in die Hose gegangen.
Beim «Sommer der Sünde» war alles anders gewesen. Keine sympathische Heldin, keine Suche nach verschrobenen Randfiguren. Es war alles da gewesen. Sorgfältig verborgen, verwahrt, wie alte Briefbündel in einem Schuhkarton auf dem Dachboden. Ich wollte die Schnur nicht lösen, die Umschläge nicht öffnen, aber ich musste es tun. Ich war wie im Rausch und zugleich wie betäubt. Als das Buch geschrieben war, veränderte ich alles, was verräterisch sein konnte. Ich baute neue Orte und Häuser, erschuf neue Familien, erfand Dorfbewohner und einen Schluss, der das Drama vollständig machte. Ich arbeitete sorgfältig. Und jetzt war Dorit tot. Wie in meinem Roman.
Nachdem ich lange neben meinem Auto in der Hitze am Feldrand gelegen hatte, entschied ich mich, doch nicht nach Berlin zurückzukehren, sondern weiterzufahren. Es war der Gedanke an Fabienne gewesen, der mich dazu gebracht hatte. Ganz sicher würde sie auch zu Dorits Beerdigung kommen, sie musste es tun. Sie war Pastorin geworden, da tat man so etwas doch, oder? Vielleicht hatte sie sogar in all den Jahren Kontakt zu Dorit gehalten. Vielleicht hatte sie ihr … geholfen. Ich versuchte, sie mir vorzustellen, eine andere, milde Fabienne. Es gelang mir nicht. Ich hatte Angst, sie wiederzusehen. Was, wenn auch sie mein Buch gelesen hatte? Sie würde unbarmherzig sein. Trotzdem, ich musste mich ihr stellen. Mit ihrer Klugheit und ihrem Scharfsinn würde sie mir helfen herauszufinden, dass ich keine Schuld trug.
Mein Hotel in Malente lag am Ufer eines der vielen Seen, und mein Zimmer fühlte sich so falsch an wie alles andere auch. Irgendwann, vor einigen Jahren, war das sehr stylisch gewesen, in London, New York und anderswo – diese schwarzen, gradlinigen Möbel vor weißen Wänden, die steingrauen, schlichten Lampenschirme und die weiße Orchidee auf dem Nachttisch. Heute war es nur ein Zeichen dafür, dass man auch in Malente versuchte, weltstädtisch zu sein, und es leider, leider nicht gelang. Denn so ging das nicht, mit fabrikgefertigten Designerimitaten aus Furnierholz. Vor allem aber ging es nicht, weil vor den Fenstern dieser liebliche See drohte. Umrahmt von sanften, bewaldeten Hügeln verbot er jeden weiten, freien Gedanken.
«Seenphobie!», stellte ich laut fest. «Seen- und Furnierholzmöbelphobie! Das ist ja lächerlich!» Es war Zeit für einen Piccolo aus der Zimmerbar.
Während ich auf den Balkon trat, trank ich mit tiefen Zügen direkt aus der Flasche. Hinter mir lag das schreckliche Zimmer, vor mir der beklemmende See, unter mir die Hotelterrasse. Und die verriet alles: weißes Plastikmobiliar, zwei Zierbrunnen aus kieselsteinbesetztem Beton und eine Reihe verschnörkelter, gusseiserner Standlaternen. Das Elend umklammerte mich von allen Seiten. Alle anderen waren glücklich. Die Terrasse war prall gefüllt, man aß und trank und plauderte und genoss sein kleines Dasein. Vielleicht genoss man auch gar nicht, sondern überspielte sie nur, die dunklen Geheimnisse, die bösen Erinnerungen, die ganze Armseligkeit des Lebens. Im besten Fall waren die da unten zu dumm, um sich an all das Böse zu erinnern, das sie bewusst oder unbewusst getan hatten.
Ich beugte mich über die Brüstung und nahm einen Tisch nach dem anderen ins Visier. Es waren nicht nur Hotelgäste, sondern offensichtlich zog die Terrasse am Wochenende auch die Einheimischen an. Ich erkannte sie an ihrer Haltung, ihrem ganzen Habitus. Sie
gönnten
sich etwas, ein feines Stück Torte, einen großen Eisbecher. Freundinnen und Familien saßen dort und waren sehr zufrieden mit ihrer schönen Heimat.
Zweimal bildete ich mir ein, alte Klassenkameradinnen wiederzuerkennen. Als ich dachte, am hintersten Tisch, mit dem Rücken zu mir, Marie zu entdecken, verließ ich den Balkon fluchtartig. Was hatte ich mir da nur vorgenommen? Wie sollte ich es schaffen, die Beerdigung zu überstehen, wenn ich schon in Panik geriet, sobald ich mir nur einbildete, Maries Rücken zu sehen?
Ich brauchte Ablenkung, dringend, und beschloss, dass es hilfreich wäre, etwas zu kaufen. Etwas Unnützes. In Städten wie Malente brauchten die Menschen Ablenkung und Trost und das Gefühl, mitten in der Welt zu sein. Deshalb gab es in jeder Kleinstadt wenigstens einen Laden, in dem jemand beschlossen hatte, den Bedürftigen ausgesucht schöne Dinge zu verkaufen. Ich wusste das von meinen Lesereisen
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