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Die Schatten eines Sommers

Die Schatten eines Sommers

Titel: Die Schatten eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lia Norden
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Künstlerin, die nur darauf zu warten brauchte, dass ihr im richtigen Moment die richtige Eingebung kam.
    In jenem Sommer, als wir sechzehn waren, tauchte sie mehr als einmal bei mir auf, um mich von den Schularbeiten abzulenken. Einmal kam sie ganz bewusst an einem Nachmittag, an dem ich für eine wichtige Mathearbeit büffeln musste, da war ich mir sicher. Braungebrannt, die langen Beine in hautengen Shorts, die Badesachen unterm Arm, hatte sie vor meinem Fenster auf der Terrasse gestanden.
    «Hey, Fabienne!», hatte sie gerufen. «Kommst du freiwillig runter, oder soll ich dich holen?»
    Ich hatte das Fenster aufgemacht und eine Welle heißer, nach Rosen duftender Luft war aus dem Garten in mein Zimmer geflutet.
    «Fährst du zum See?», hatte ich gefragt. «Dann komme ich später vielleicht nach.»
    «Nein. Du kommst jetzt! Ich warte genau drei Minuten hier unten. Wenn du dann nicht da bist, klettere ich die Regenrinne hoch.» Hanna hatte gelacht, ihre Sachen auf den Boden geworfen und sich lasziv auf dem Liegestuhl geräkelt, so wie sie es sicher in einem Film gesehen hatte. Hanna spielte immer irgendeine Rolle und am liebsten die der Femme fatale. Wahrscheinlich kannte ich diesen Ausdruck damals noch nicht einmal, aber ich spürte, was sie mit dieser Rolle bezwecken wollte. Dass sie mich ködern, ihre Macht über mich austesten wollte. Ich durchschaute das alles ganz genau und leistete trotzdem keine Gegenwehr. Stattdessen klappte ich mein Buch zu, holte mein Badezeug und stand keine drei Minuten später neben Hanna auf der Terrasse.
    Bis heute werde ich den triumphierenden Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht vergessen, als wir die Mathearbeiten zurückbekamen und ich nur eine Vier hatte. In dem Moment hasste ich sie.
    Als ich meinen Laptop vom Schreibtisch nahm und ihn in die Reisetasche packte, weil ich die grässliche Rede immer noch nicht geschrieben hatte, blitzte die Wut in mir auf: Sie hatte es wieder geschafft! Hanna! Anstatt mich auf meine Aufgaben zu konzentrieren, waren meine Gedanken immer wieder abgeschweift und um sie gekreist, um ihre Lust zu verführen und zu manipulieren. Seit ich ihr Buch gelesen hatte, konnte ich mich ihrem Einfluss nicht mehr entziehen, genau wie damals. Keine von uns hatte es geschafft, sich ihr zu entziehen. Weder ich noch Marie noch Dorit.
    Ich stellte meine Reisetasche in den Kofferraum und stieg ins Auto. Nun gut, auf dem Weg nach Beerenbök würde ich Zeit genug haben, die Rede für Dorit in Gedanken zu formulieren. Wenn Tante Hiltrud dann im Bett war, würde ich sie aufschreiben. Ausdrucken war nicht nötig. Was ich einmal geschrieben hatte, merkte ich mir auch so. Ich würde mir Mühe geben, und es würde eine gute Rede werden. Das war ich Dorit schuldig. Der armen Dorit.

[zur Inhaltsübersicht]
    HANNA
    Ich hatte in den letzten Jahren einige Freundinnen verloren, durch meine Romane. Eine nach der anderen hatte ich sie in meinen Geschichten verwurstet. Ich tat es aus der Not heraus, ich hatte einfach zu wenig Phantasie, um lebendige Charaktere neu zu erschaffen. Nur für die Hauptfiguren meiner Romane benötigte ich keine Vorbilder aus dem wirklichen Leben. Es waren sympathische Frauen, die nach dem Glück suchten, nette, große Mädchen mit Humor und kleinen Schwächen. Langweilerinnen, aber sie funktionierten. Doch ihre Begleiterinnen waren durchgeknallte Familienmütter, hysterische Singles, Alkoholikerinnen, Fresssüchtige, Workaholics, Esoterikerinnen. Meine Freundinnen eben. Meine Ex-Freundinnen. Jedes Mal hatte ich gedacht, ich hätte sie so übertrieben dargestellt, dass keine von ihnen sich wiedererkennen würde. Ich ließ sie Dinge tun, die sie niemals getan hatten, gab ihnen andere Jobs und zusätzliche Macken. Und niemals hatte ich erzählt, wann ein neues Buch von mir erschien. Sie hatten das Buch und sich selbst dennoch jedes Mal entdeckt, jede Einzelne von ihnen. Zuletzt war es eine alte Schulfreundin gewesen, die ich als manisch-besorgte Mutter in «Katzenpfoten» hatte auftauchen lassen. Ehrlich gesagt, ich hatte es vergessen und war wirklich überrascht gewesen, als sie mir am Telefon eine Szene machte. «Ich hasse dein Buch!», hatte sie gebrüllt. «Du hast mich bloßgestellt! Komplett verzerrt. Weil du neidisch auf mich bist, weil du keine Kinder hast, weil du niemanden hast, um den du dich sorgen kannst!»
    Das war natürlich lächerlich. Ich hatte nie Kinder gewollt. Ganz früher einmal vielleicht, aber dann hatte ich anderes zu tun gehabt. Leben.

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