Die Schatten eines Sommers
quer durch die Kleinstädte der Republik.
Als ich an der Rezeption vorbeieilte, um keinesfalls von der Terrasse aus gesehen zu werden, wurde ich aufgehalten.
«Entschuldigung!», rief eine hohe, klare Stimme.
Ich überlegte eine Sekunde lang, sie einfach zu ignorieren, aber es war bereits zu spät. Die junge Rezeptionistin war schon auf dem Weg zu mir. Verlegen lächelnd und in der Hand mein Buch. Den «Sommer der Sünde».
«Bitte entschuldigen Sie vielmals», sagte sie aufgeregt, «aber meine Schicht endet gleich, und ich habe gesehen, dass Sie morgen schon wieder abreisen, und ich habe doch Ihr Buch gelesen, und da wollte ich fragen …»
«Natürlich», sagte ich schnell, «ich signiere es Ihnen.»
«Das ist so ein tolles Buch», strahlte sie. «So aufregend und traurig und …»
Sie sprach viel zu laut, und ich versuchte, sie zu stoppen. Die Fenster zur Terrasse standen offen, und ein paar Gäste hatten sich bereits zu uns umgedreht.
«Schön», unterbrach ich sie und schnappte mir das Buch und den Stift, den sie mir hinhielt. «Schön, dass es Ihnen gefällt.»
«Ich finde es so toll, dass die Geschichte hier bei uns spielt. Ich habe auch mal gegoogelt, wo Sie denn damals gelebt haben, aber da steht überall nur Schleswig-Holstein. Woher kommen Sie denn genau? Ich bin aus …»
Ich drückte ihr das Buch in die Hand und flüchtete.
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MARIE
Rührte ich nicht schon viel zu lange in meiner Kaffeetasse herum? Fast hätte ich mir noch Zucker in das aufgeschäumte Gebräu geschüttet, nur um irgendetwas zu tun zu haben. Es war lächerlich!
Ich
war lächerlich, war es schlicht und einfach nicht gewohnt, allein in einem Café zu sitzen und mich dabei zu entspannen. Aus unerfindlichen Gründen bildete ich mir ein, sofort wie eine Frau auszusehen, die keine Freundinnen hat, geschweige denn einen Mann. Kurzum: Niemanden, der gewillt ist, den Nachmittag mit ihr zu teilen. Wie idiotisch! Ich nestelte in meiner Handtasche nach der Zigarettenpackung. Schließlich hatte ich hauptsächlich deswegen hier im Hofhotel Malente angehalten: Um in Ruhe eine Zigarette zu rauchen, bevor ich mich der üblichen anstrengenden Begegnung mit meiner Mutter aussetzte. Bei uns zu Hause rauchte ich grundsätzlich nicht, aus pädagogischen Gründen. Ich wollte Lea kein schlechtes Vorbild sein, dabei war das natürlich albern. Wer weiß, vielleicht hätte das Eingeständnis dieser Schwäche Lea sogar imponiert? Ach, Unsinn! Ich schüttelte energisch den Kopf, um mich gleich darauf verstohlen umzublicken. Hatte das etwa jemand mitbekommen? Dieses unmotivierte Kopfschütteln? Ich seufzte. Was ich auch tat – für meine Tochter war ich zurzeit hoffnungslos uncool. Also war es Lea wahrscheinlich auch piepegal, ob ich Kette rauchte oder täglich Marihuana konsumierte.
«Darf ich?» Ein braungebrannter Mann vom Nebentisch hielt mir sein aufgeklapptes Feuerzeug unter die Nase.
«Oh, ja, danke, sehr freundlich!» Ich lächelte ihm kurz zu und beeilte mich, an meiner Zigarette zu ziehen.
Na so was! Ein Mann, der einem unaufgefordert Feuer gab … Solche Exemplare existierten nur noch in der Provinz. Ich musterte den Feuerspender unauffällig. Er war etwa in meinem Alter, aber kein bisschen attraktiv: vorzeitig ausgedünntes Resthaar über die beginnende Glatze gekämmt, Bauchansatz unter dem zartrosa Hemd, hochglänzende silbergraue Versandhauskrawatte in Verbindung mit zu viel Aftershave … Ich lehnte mich zurück, um deutlich zu machen, dass ich keinen Kontakt suchte. Bis mir ein erschreckender Gedanke kam: Fiel das Urteil des Mannes am Nebentisch über mich in diesem Moment möglicherweise ähnlich vernichtend aus wie meins über ihn? Unwillkürlich strich ich meinen schwarzen Rock glatt, aber davon wurde er auch nicht länger. Der Rock war einer von der engen schmalen Sorte, in denen man im Stehen vor dem Spiegel super aussieht (lange Beine, schmale Silhouette), der aber beim Sitzen sofort nach oben rutscht, um mindestens zehn Zentimeter Oberschenkel zu viel zu präsentieren. Wie war ich nur auf die absurde Idee gekommen, dieses Teil zu Dorits Beerdigung zu tragen? Leider wurde der Rock auch dadurch nicht besser, dass ich ihn bereits heute angezogen hatte, um mich daran zu gewöhnen. Wie viel passender wäre der dunkelgraue Hosenanzug gewesen, den ich normalerweise zu Elternabenden und anderen trübsinnigen Veranstaltungen anzog! Ich hatte den Anzug heute Morgen sogar schon aus dem Schrank genommen und prüfend
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