Die Schatten eines Sommers
du mal deine Rede zu Ende, mein Kind. Das soll ja auch was ordentlich Schönes werden.»
Kurz darauf saß ich an dem Schreibtisch meines Cousins, auf dem knarzenden Drehstuhl, den Laptop vor mir, und schaute aus dem offenen Fenster in die Zweige des Kirschbaums, die mittlerweile fast das Haus berührten. Als wir vier Unzertrennlichen damals in den Baum geklettert waren und zum Ärger meines Onkels sämtliche Kirschen abgepflückt hatten, war der Baum längst nicht so groß gewesen. Wir hatten uns gegenseitig mit den Kernen bespuckt, und Hanna wäre vor Lachen fast vom Ast gefallen. Ich weiß noch, wie blutrot verschmiert ihr Mund war.
Für ein paar Sekunden schloss ich die Augen und atmete den Sommergeruch ein. Nie wieder hatte ich diesen Geruch so intensiv erlebt wie damals in Beerenbök. In dem letzten Juli, in dem die Welt noch in Ordnung gewesen war, hatten wir vier einmal eine ganze Nacht draußen verbracht. Obwohl wir Zelte dabeihatten, blieben wir auf der Wiese unterm Sternenhimmel liegen, und ich konnte mich nicht sattatmen an den Gerüchen, die der Tag hinterlassen hatte. Ich lag zwischen Hanna und Marie, deren Haut Sonne und Delial-Creme aufgesaugt hatte, und vom See her kam frische, noch warme Luft, die man fast schmecken konnte. Marie hatte vierblätterige Kleeblätter gesucht, die sie uns dreien geschenkt hatte, und selbst deren feinen Duft glaubte ich wahrzunehmen. Wie selbstverständlich konnten wir in dieser Nacht miteinander reden, ohne Konkurrenzkämpfe und Eifersüchteleien. Natürlich sprachen wir über die große Liebe, an die wir alle vier glaubten und auf die wir uns freuten wie auf ein gutes Buch, das noch ungelesen auf unserem Nachttisch lag. Nur wenige Wochen später entdeckte Dorit, dass es ihre Mutter war, die dieses Wunder erleben durfte. Von da an gab es kein anderes Thema mehr für Dorit. Und sie schaffte es, dass auch wir anderen drei uns immer mehr in diese Geschichte verstrickten, die uns eigentlich nichts anging.
Der fahle, säuerliche Geschmack des Biers, das ich zu kalt und zu schnell getrunken hatte, stieg in mir auf. Verdammt noch mal, warum konnte ich nicht endlich bei dem Schönen und Guten bleiben? Alles andere hatte in einer Grabrede nichts zu suchen. Ich schloss das Fenster, zog die Vorhänge zu und sah auf die Tasten meines Laptops.
Nun also, wenn ich mich konzentrierte, dann schaffte ich alles, was ich wollte. Ich würde jetzt etwas Erbauliches schreiben. Etwas, in dem ich unsere Jugendjahre wieder aufleben lassen würde, das Kirschenstibitzen und die Schulausflüge, unsere Radtouren durch die Holsteinische Schweiz und unser gemeinsames Büffeln für die Lateinarbeiten. Alles das, was wir Mädchen einst an Freud und Leid erlebt hatten. Natürlich würde ich erwähnen, dass Dorits Dasein nicht immer leicht gewesen ist; es gab ja niemanden im Dorf, der das nicht wusste. Doch auch diese Prüfungen, die uns der Herr auferlegte, gehörten dazu, und die gute Dorit hatte ihre Pflichten ohne Klagen erfüllt. In Dorits Namen würde ich die Trauergemeinde bitten, ihrer Mutter etwas von der Fürsorge zukommen zu lassen, die ihr die Tochter nun nicht mehr geben konnte. Ruhe du nur in Frieden, Dorit, wo immer du jetzt sein magst, in Ewigkeit.
Endlich glitten meine Finger wie gewohnt über die Tasten, und ich wusste, es würde eine gute Rede werden, eine segensreiche, trostspendende Ansprache. Vielleicht würde sie ein bisschen dazu beitragen, dass Tante Hiltrud und ganz Beerenbök nach diesem tragischen Vorfall zur Ruhe kommen würden. Das Leben ging weiter, und wir Menschen konnten nicht alle Rätsel lösen. Doch so unbegreiflich uns manches auch scheinen mochte, so gab es doch letztlich für alles eine Erklärung. Niemand weiß, was der Tod ist, ob er nicht für den Menschen das größte ist unter den Gütern. Das hatte Platon einst geschrieben, und immer wieder bin ich geneigt, ihm recht zu geben.
Noch bevor ich den letzten Satz meiner Rede getippt hatte, sah ich mich vor Dorits Sarg stehen und die Beerenböker hörten mit ernsten, aber ruhigen Gesichtern den letzten Worten für Dorit zu. Ja, ich wollte ihr einen friedlichen, einen würdevollen Abschied bereiten. Das war ich ihr schuldig.
[zur Inhaltsübersicht]
HANNA
Ich war überpünktlich, ausnahmsweise. Noch nie in meinem Leben war ich irgendwo vor der vereinbarten Zeit gewesen. Wenn wir uns damals zu viert verabredet hatten, war ich immer die Letzte gewesen, die eintraf. Manchmal kam ich zeitgleich mit Fabienne oder
Weitere Kostenlose Bücher