Die Schatten eines Sommers
strengte mich an, nicht auch zu flüstern.
«Na, den Mann.»
«Den, der sie gefunden hat?»
«Ja, ich hab ihn gesehen, bei Minners an der Theke, am Vormittag. Der hatte irgendwie was Merkwürdiges.»
«Ich denke, er hat die Polizei gerufen?»
«Schon. Aber vielleicht nur, um sich unverdächtig zu machen.»
«Wie kommst du darauf?»
«Was macht denn so einer, der sich hier nicht auskennt, an dem See, Fabienne? Den finden doch kaum noch die Einheimischen, so versteckt, wie der liegt.» Tante Hiltrud seufzte. «Und außerdem, sie konnte doch schwimmen, die Dorit, das weißt du doch. Ihr wart doch damals zusammen im Schwimmverein. So jemand ertrinkt doch nicht einfach, oder, Fabienne?»
Ich ging auf diese hypothetische Frage nicht ein. Ich wollte auf nichts eingehen, was meine Tante da so von sich gab. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte mich in das verlassene Kinderzimmer meines Cousins verkrochen. Doch ich blieb sitzen, Tante Hiltrud gegenüber, die mich über die Reste ihres Käsebrots hinweg aus leicht verschwommenen Augen anstarrte.
«Und die Polizei glaubt auch, dass der Mann etwas damit zu tun hat?», fragte ich dann doch, obwohl mich meine Neugier beschämte.
«Der Christian geht natürlich jeder Spur nach.»
«Welcher Christian? Und was für einer Spur?»
Tante Hiltrud biss in ihr Brot, kaute langsam, schluckte, kaute noch mal und spülte den Rest mit Bier hinunter. «Christian Degner, der in dem alten Postgebäude wohnt. Er hat es davor bewahrt, dass es völlig zerfällt. Der war doch eine Klasse unter dir, so ein hübscher Blonder, weißt du? Er ist zur Polizei gegangen, und jetzt ist er für Beerenbök zuständig. Er hat so eine nette Art, aber er lässt nicht locker. Er hat jeden im Dorf befragt, jeden Einzelnen. Mich auch.»
Bei den letzten Worten hatte meine Tante die Stimme gesenkt. Ich hätte sie schütteln können. Ihre sensationslüsterne und gleichzeitig heimlichtuerische Art machte mich wahnsinnig. «Was hat er denn gefragt?»
«Na, alles. Ob wir was beobachtet haben. Ob Dorit irgendwie anders war als sonst. Ob sie Depressionen hatte, vielleicht Liebeskummer. Eben, ob irgendetwas anders war als sonst, kurz vor ihrem Tod.»
«Und? War etwas anders?»
Tante Hiltrud hob die mageren Schultern und ließ sie wieder sacken. «Seit dem Unglück damals ließ sie ja nicht mehr viel raus. War immer verschlossen. Also, ich sag dir mal, Fabienne, verdenken kann man ihr das nicht, wenn sie nicht mehr leben wollte, auch wenn’s vielleicht eine Sünde ist. Ich meine, immer nur für die kranke Mutter da sein …» Wieder ließ sie einen Seufzer hören. «Aber es soll ja ziemlich schwierig sein, sich selbst zu ertränken, wenn man gut schwimmen kann. Man paddelt wohl automatisch um sein Leben.»
Ich stand abrupt auf. «Danke für das Abendbrot, Tante Hiltrud. Ich muss noch ein wenig an der Grabrede arbeiten. Wir sehen uns dann morgen früh.» Ohne meiner Tante noch einmal in die wässerigen Augen zu schauen, nahm ich mein Holzbrett und meine Bierflasche und stellte beides neben die Spüle.
«Ja, mein Kind, wir sind alle ein wenig geschockt, das ganze Dorf», hörte ich Tante Hiltrud sagen. «Wenn jedenfalls die Polizei was herausgefunden hätte …»
«Gute Nacht, Tantchen. Schlaf trotzdem gut.» Ich nickte ihr beruhigend zu. Doch in der Küchentür drehte ich mich noch einmal um. «Übrigens … Dorits Vater … Weißt du, ob er zur Beerdigung kommen wird?»
Jetzt legte Tante Hiltrud ihr Gesicht in Kummerfalten. «Tsss», machte sie, «das musst du dir mal vorstellen: Ich hab ihm wegen Dorits Tod geschrieben – es war gar nicht so einfach, seine Adresse rauszukriegen –, und er hat mir einen kurzen Beileidsbrief geschickt.» Sie schüttelte immer noch fassungslos die grauen Locken. «
Er
hat
mir
sein Beileid ausgesprochen. Dorits leiblicher Vater! Der Mann ist nicht nur herzlos, seine Tochter einfach so abzuschreiben. Der ist doch verrückt, schlichtweg verrückt.» Sie sagte das mit einem Ernst, der ahnen ließ, dass die Gefühlskälte von Dorits Vater für sie ein schier unlösbares Rätsel darstellte.
«Ach, liebe Tante Hiltrud», sagte ich. «Die Wege und Taten der Menschen sind nicht immer leicht zu verstehen. Manches müssen wir wohl schlichtweg akzeptieren.»
«Da magst du recht haben, Fabienne. Und sicher bist du Expertin auf diesem Gebiet.» Sie seufzte und lächelte mich treuherzig an, gerade so, als fühlte sie sich durch dieses kurze Gespräch getröstet. «Dann schreib
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