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Die Schatten eines Sommers

Die Schatten eines Sommers

Titel: Die Schatten eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lia Norden
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zu vergewissern, dass ihre Botschaft auch angekommen war: Die gestresste, erfolgreiche Fabienne, die zukünftige Fernsehpfarrerin, die hatte nicht gezögert, zur Beerdigung ihrer alten Jugendfreundin Dorit zu kommen! Während ich, die ich auch in Hamburg wohnte und die Beisetzung mit einem netten Kurzbesuch bei meiner reizenden Mutter verbinden konnte, mich erst im allerletzten Moment entschlossen hatte, Dorit die letzte Ehre zu erweisen … Wie hätte mein Fernbleiben wohl im Dorf ausgesehen?
    Nun, Mama hatte bekommen, was sie wollte. In ihrem besten dunklen Kostüm saß sie hoch aufgerichtet neben mir und lauschte aufmerksam Fabiennes Worten. Ich merkte, dass ich selbst Fabienne überhaupt nicht zuhörte. Ich nahm den Klang ihrer Stimme wahr, ohne zu begreifen, was sie sagte. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, die damalige Fabienne mit der heutigen zu vergleichen. Wie souverän sie wirkte, selbstbewusst, ruhig und doch voller Anteilnahme. Angemessen emotional – schließlich hatte sie Dorit einmal gut gekannt –, aber nicht aufgelöst, sondern beherrscht und trostspendend. Fabienne hatte die Situation im Griff. Etwas anderes hatte ich auch nicht von ihr erwartet.
    Während die Orgel ein weiteres Lied anstimmte, ein langsames, getragenes, das mit Sicherheit auch Fabiennes unsägliche Tante Hiltrud ausgewählt hatte, erlaubte ich mir endlich einen längeren Blick auf den Sarg. Ich versuchte mir vorzustellen, wie Dorit darin lag. Klein und schmal, den Kopf auf ein Kissen gebettet, die Hände über der Brust gefaltet. Oder war das so nur üblich, wenn jemand im offenen Sarg aufgebahrt wurde? – Im Grunde war es doch egal, wie ein Mensch im geschlossenen Sarg dalag. Ob man Dorit die Haare gebürstet hatte? Auf die war sie immer so stolz gewesen, bloß weil Hanna sie einmal als «Feenhaar» bezeichnet hatte. Dorits Haar war lang, aber nicht dick und üppig gewesen wie das von Fabienne, sondern hell und durchscheinend, fast wie Flaum. In Hannas Roman war die Figur der Dorit nicht blond, sondern rothaarig, die dünnen Arme mit Sommersprossen übersät. Und natürlich hatte Hanna den Ausdruck «Feenhaar» vermieden, wie sie alles vermieden hatte, was allzu deutlich auf uns vier hingedeutet hätte. Und doch war es für mich so eindeutig gewesen. Ich erinnerte mich genau: Nachdem ich in einer Fachzeitschrift für Bibliotheken die groß aufgemachte Ankündigung von Hannas neuem Roman gelesen hatte, war ich voller böser Vorahnung in die nächste Buchhandlung geeilt und hatte noch dort begonnen zu lesen, hatte hektisch Seite um Seite überflogen, abgestoßen und fasziniert zugleich von Hannas unglaublicher Unverfrorenheit, all das aufzuschreiben und hunderttausendfach zu veröffentlichen, was wir anderen seit Jahrzehnten mühsam verdrängt hatten. Und selbst nach über fünfundzwanzig Jahren hatte mich noch verletzt zu lesen, wie Hanna damals über mich gedacht hatte. Komprimiert klang das ungefähr so:
Sie war der Typ Mädchen, der immer übersehen wird, nett, aber hoffnungslos langweilig, eine Mitläuferin, eine, von der später niemand mehr mit Sicherheit sagen konnte, ob sie überhaupt dabei gewesen war. Kein Wunder, dass sie danach lechzte zu beweisen, dass mehr in ihr steckte, dass sie durchaus imstande war, über Grenzen zu gehen und alle zu überraschen. Und schon bald sollte sie die Gelegenheit dazu bekommen …
    Dabei hatte Hanna die literarischen Regeln eingehalten. Sogar die übliche Anmerkung hatte sie vorweg geschrieben: «Dieses Buch ist ein Roman. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen oder Begebenheiten sind rein zufällig und von mir nicht beabsichtigt …»
    O nein, natürlich nicht! Hanna hatte unser Aussehen verändert, unsere Eigenheiten verfremdet, die Familienkonstellationen umgestellt – und dennoch entsprachen die vier Protagonistinnen in ihrem Buch doch eindeutig uns vier Mädchen von damals. Hatte Hanna das nicht gesehen? Verrannte ich mich etwa total? War der Zusammenhang für Außenstehende vielleicht gar nicht so leicht erkennbar, wie ich annahm? Wie auch immer: Hanna war es schlichtweg gleichgültig gewesen, was sie mit ihrem Buch auslöste, so viel war sicher. Sie hatte die Tür zur Vergangenheit geöffnet und damit die Büchse der Pandora. Ich spürte immer deutlicher, dass Dorits Tod zum jetzigen Zeitpunkt kein Zufall gewesen war. Nein, Dorit war direkt oder indirekt Hannas Opfer geworden. Nicht nur in ihrem unseligen Roman, sondern auch in Wirklichkeit. Wie konnte

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