Die Schatten eines Sommers
– anzuschauen, hatte sich kein bisschen geändert. Ich mochte ihn nicht, so wie ich ihn nie gemocht hatte. Aber für diesen einen Moment war ich ihm dankbar.
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HANNA
Marie hatte am Eingang des Gasthauses auf mich gewartet. «Setzen wir uns zusammen?»
Ich war überrascht gewesen, wie mutig sie auf mich zuging und wie erleichtert und schnell ich genickt hatte. «Unbedingt!»
Wir hatten einen letzten leeren Tisch für uns gefunden, in der hintersten Ecke des großen Gastraums.
«Puh, alles wie früher.» Marie überspielte perfekt unsere Verlegenheit, sich nach all den Jahren unter diesen Umständen wiederzusehen. «Weißt du noch, meine Konfirmation damals, hier?»
Ich lachte leise. «Mein Gott, ja. Sie haben sich alle dermaßen schnell betrunken, sämtliche Erwachsene, und wir haben uns heimlich verdrückt …»
«Ja, wir sind zum See.» Marie seufzte. «Herrje, dieser See.»
Das Stimmengewirr im Raum war viel zu laut, als dass uns jemand hätte hören können, dennoch beugte ich mich vor und senkte meine Stimme. «Was glaubst du? Was ist da passiert, mit Dorit?»
Marie sah mich auf eine Art an, die ich nicht von ihr kannte. Tadelnd. «Das fragst du jetzt nicht im Ernst!», stellte sie fest. «Warum in aller Welt hast du dieses verdammte Buch geschrieben?» Ihre Frage traf mich wie ein Schlag in den Magen, es verschlug mir die Sprache.
Es war Mirko, der das angespannte Schweigen zwischen uns unterbrach.
«Na, ihr zwei Hübschen!» Ächzend ließ er sich auf den Stuhl neben mir plumpsen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. «Mann, ist das heiß hier! Das muss an euch beiden liegen.»
Marie schenkte ihm tatsächlich ein strahlendes Lächeln. «Mirko. Du hast dich … du hast dich gar nicht verändert», sagte sie liebreizend. «Wie geht es dir?»
«Filialleiter», antwortete Mirko selbstgefällig. «Eutiner Sparkasse. Ich mag Geld … und das Geld mag mich.»
Marie bemühte sich, die Fassung zu bewahren. «Schön», meinte sie, jetzt mit einem ziemlich gequälten Lächeln. «Und sonst so, zu Hause? Bist du verheiratet?»
«Heute nicht!», grinste Mirko.
Ich hatte genug und drehte mich um. Am anderen Ende des Raums entdeckte ich Fabienne. Sie hatte einen Ehrenplatz bekommen, am Kopf eines langen Tischs. Über Eck neben ihr saß Dorits Mutter. Fabienne betrachtete sie mit einem milden Lächeln. Es war ein Seelsorgerlächeln, es passte nicht zu ihr, kein bisschen. Hatte sie sich tatsächlich so verändert? Tat man das, wenn man sich spät und bewusst für den Glauben entschied? Oder lernte man so ein Lächeln, wenn man Pastorin wurde? War das ein Studienfach? Ich ertappte mich dabei, Fabienne das fragen zu wollen. «Sag mal, hast du da eigentlich ein Seminar belegt?
Theologie, Grundkurs A: Gefühlsbekundungen – Von Freude bis Mitleid
?»
Sticheleien und kleine Gehässigkeiten – das war damals unser Spiel gewesen. Aber ich war nicht hier, um es wieder aufleben zu lassen. Falls Fabienne etwas über Dorit wusste und ich es erfahren wollte, musste ich mich ihr gegenüber weich und entgegenkommend zeigen.
Ich beobachtete sie weiter, aus sicherer Entfernung. Als sich unsere Blicke plötzlich trafen, erstarrte ihr Gesicht. Sie erschrak, ganz offensichtlich, aber sie wandte ihre Augen nicht ab. Ich war überrascht zu sehen, wie sie die Fassung verlor, und starrte weiter, als ob ich an einem Verkehrsunfall vorbeifahren und versuchen würde, einen Blick auf die Verletzten zu erhaschen. Dann hatte auch Mirko sie entdeckt. Augenblicklich drehte er sich um, schwenkte die Arme und winkte Fabienne aufmunternd zu uns.
«Die soll herkommen!», frohlockte er. «Ihr drei beisammen, Mann, wie lang ist das her? Fünfundzwanzig Jahre? Plötzlich war keine mehr von euch da. War ruhig danach, im Dorf, nix mehr los, aber das holen wir jetzt alles nach, tschakka-tschakka, was?!»
In dem Moment, als Mirko das Zepter übernahm, legte Fabienne den Schalter um, gewann die Kontrolle über ihr Gesicht zurück und winkte zurück. Marie und ich schwiegen, bis sie sich durch die Tischreihen zu uns vorgearbeitet hatte. Mirko bemerkte es nicht. Er sprach wie ein Wasserfall, bis Fabienne vor uns stand.
«Mirko!», sagte sie freundlich und gab ihm die Hand. «Schön, dich wiederzusehen!» Sie war ein guter Mensch, jedenfalls von Berufs wegen. Danach küsste sie erst Marie, dann mich flüchtig auf beide Wangen und setzte sich. «Wie traurig, dass wir uns unter diesen Umständen wiedersehen.»
«Ja»,
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