Die Schatten eines Sommers
Hanna nur mit diesem Wissen leben?
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FABIENNE
Mit der Trauergesellschaft Kaffee trinken zu gehen ist sicherlich nicht die angenehmste aller Aufgaben in meinem Beruf. Doch ich drückte mich nur selten um diese Gepflogenheit. Immerhin strahlt man als Pfarrerin eine gewisse Autorität aus, sodass einem Anbiederungsversuche und Vertraulichkeiten erspart bleiben. Meist kann ich in Ruhe im Kreise der Hinterbliebenen sitzen, meinen Tee trinken und den Gesprächen zuhören. Für mich ist es tatsächlich immer wieder tröstlich – und genau das ist ja der Sinn dieser Feiern –, dass das Leben in all seiner Banalität weitergeht. Mit den netten Anekdoten über die Verstorbenen, mit den unterschwellig brodelnden Familienfehden, mit den kleinen Gehässigkeiten, die mit zuckersüßer Miene zum Kaffee serviert werden. Denn genau so ist das Leben. Es ist nicht einfach nur schwarz und weiß, niemals.
Als Teenager hatte ich noch in solchen Kategorien gedacht. Es gab die Guten und die Bösen, die Weltverbesserer und diejenigen, die ihrer Mitwelt Schaden zufügten. Und natürlich wollte ich zu den Guten gehören. Ich wollte die Welt retten, so, wie ich einmal einen Igel vor dem Erfrieren gerettet hatte. Vielleicht ahnte ich schon damals, wie mühsam und vergeblich diese Versuche meistens ablaufen. Ehrlich gestanden hatte ich das Interesse an dem Igelchen schon verloren, bevor es in seiner Überwinterungskiste verstarb.
Inzwischen weiß ich, dass sich die Welt nicht so leicht retten lässt. Man kann Denkanstöße geben, was ich mit meinen Predigten und meiner Kolumne versuche und demnächst auch mit meiner Fernsehsendung. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Manchmal glaube ich, dass die Welt sich nicht retten lassen will, sondern geradezu todessehnsüchtig auf ihren Untergang zulebt.
Auch Dorit hatte diesen Hang zum Desaster. Als ihre Mutter sich in einen anderen Mann verliebte, grub sie sich in die Geschichte hinein wie ein Maulwurf. Sie wollte leiden. Stundenlang erzählte sie uns bis ins Detail, was sie alles erlauscht und beobachtet hatte. Sie litt mit ihrem Vater, doch als der sich ungewöhnlich schnell mit dem Ende seiner Ehe abfand und sich ebenfalls verliebte, litt sie noch viel mehr. Sie hasste alle und jeden. Ihre Mutter und den neuen Freund ihrer Mutter, ihren Vater und die Frau, mit der er schon kurz nach der Trennung zusammenzog
.
Es hatte wirklich etwas Selbstzerstörerisches, wie sich Dorits Gedanken monatelang um das Zerbrechen der Ehe ihrer Eltern drehten.
Als dann der Unfall passierte, war es fast, als hätten sich ihre düstersten Wünsche erfüllt.
Natürlich hatte ich diese Überlegungen für mich behalten, als ich vor dem Sarg stand und über Dorit und ihr Leben sprach. Auch das mag ich an meinem Beruf. Ich bin keine Therapeutin, die den Finger in die Wunde legen muss. Ich darf trösten und Hoffnung geben und mich auf das Gute beschränken.
Die Trauergesellschaft war vom Friedhof aus in Grüppchen zum Gasthaus aufgebrochen, das am anderen Ende des Dorfes lag. Ich hatte mich an die Seite der Nachbarin gesellt, die den Rollstuhl von Dorits Mutter schob, und da wir nur langsam vorankamen, waren wir die Letzten, die die niedrige Gaststube betraten. Eine Mischung aus Kaffeeduft, dem Geruch von buttergetränkten Kuchen, billigen Aftershaves, Parfüms und überhitzten Körpern schlug mir entgegen. Selbst das Bier und die Brathähnchen, die hier Abend für Abend konsumiert wurden, waren noch zu riechen. Mein Magen rebellierte sofort, und ich atmete flach. Warum nur tat ich mir das an? Dieses Mal hatte ich mich überschätzt. Ich hätte einen Vorwand finden müssen, um all dem fernzubleiben. Längst schon hätte ich im Wagen sitzen können, auf der Landstraße Richtung Autobahn, weg von Beerenbök und seinen Scheußlichkeiten.
Ich entdeckte Hanna und Marie sofort. Sie saßen an einem der kleineren Tische, eleganter, großstädtischer als die anderen Gäste, und obwohl noch zwei Stühle frei waren, hatte sich niemand zu ihnen gesetzt. Sie redeten leise miteinander, wie zwei Schulmädchen, die Geheimnisse austauschten. Ich schaute weg.
Natürlich hatte ich sie in der Kirche wahrgenommen. Aber ich hatte sie ausgeblendet. Ich wollte sie nicht sehen, nicht an sie denken, mir nicht vorstellen, was sie dachten und fühlten. Und es war mir gelungen. Weder Hanna noch Marie noch Dorit in ihrem Sarg noch deren Mutter im Rollstuhl hatte ich erlaubt, mich zu irritieren. Eine Trauerrede ist wie der
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