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Die Schatten eines Sommers

Die Schatten eines Sommers

Titel: Die Schatten eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lia Norden
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Trauerhalle öffneten, wusste ich, wer da kam. Zu spät natürlich, wie üblich. Wieder einmal hatte Hanna ihren eigenen Auftritt. Wieder einmal erreichte sie, dass sich alle Augen auf sie richteten. Dabei ging es ihr gar nicht um die Aufmerksamkeit, die sie auf diese Weise unweigerlich auf sich zog. Das hatte sie jedenfalls früher immer behauptet. Nein, Hanna kam notorisch zu spät, weil sie schlicht keine Lust hatte, ihre Zeit mit langweiligem Kram zu verplempern. Und mit hundert füßescharrenden, hüstelnden Landpomeranzen in einer schmucklosen Trauerhalle herumzuhocken und darauf zu warten, dass die Beerdigungszeremonie begann, zählte ganz sicher zu den besonders langweiligen Momenten. Das musste sich eine Hanna Nielsen nicht antun, während irgendwo auf der Welt gerade weitaus aufregendere Dinge auf sie warteten.
    So war es schon früher gewesen, bei den Verabredungen der vier «Unzertrennlichen»: Immer kamen Dorit und ich zuerst. Fabienne erschien stets genau eine Minute nach der vereinbarten Zeit (was mich ebenfalls ärgerte, weil es schon damals den Eindruck erweckte, als hake sie unsere Treffen in einem exakten, übervollen Terminplan ab). Und Hanna kam eben, wann sie wollte, Hauptsache zu spät. Es hatte mich rasend gemacht.
    «Warum ist deine Zeit immer kostbarer als unsere Zeit?», hatte ich sie irgendwann angeschrien, nachdem wir anderen drei den halben Nachmittag an einer staubigen Straßenecke auf sie gewartet hatten, anstatt am See zu liegen. Hanna hatte nur den Kopf geschüttelt und lässig mit den Achseln gezuckt, auf diese spezielle Weise, die mir das Gefühl gab, eine hoffnungslose Spießerin zu sein, eine, die auf die Stoppuhr guckt, anstatt das Leben zu genießen und es zu nehmen, wie es eben kommt. Eine, die alles andere als cool ist. Bis heute hasse ich es, wenn Menschen sich verspäten. Bis heute fühle ich mich dadurch gedemütigt und degradiert. Und es war durchaus vorgekommen, dass ich vor Wut in Tränen ausbrach, wenn mich jemand zu lange warten ließ.
    Hanna hatte in der letzten Reihe mir gegenüber Platz genommen, zwischen uns der weiße, blumengeschmückte Sarg. Ich sah, wie ihr Blick schnell über die Trauergemeinde glitt, um schließlich an mir hängenzubleiben. Für eine Sekunde schien sie verwirrt, irritiert, dann lächelte sie mir leicht zu. Es sah angestrengt aus und irgendwie verunglückt. Jetzt blickte auch Hannas Begleiter zu mir herüber. Mirko Basmeier. Was machte der denn an Hannas Seite?! In den letzten Jahren hatte ich ihn einige Male von weitem gesehen. Er war dick geworden, schien aber lüstern wie eh und je. Nur dass seine Lüsternheit damals nie mir gegolten hatte. Er stand auf deutlich üppigere Mädchen, Mädchen wie Hanna, die ihn aber nie an sich herangelassen hatte. Unwillkürlich schlug ich die Beine übereinander und richtete mich auf, mein schwarzer Rock rutschte ein Stück höher, die weiße Bluse spannte leicht über meinen Brüsten. Ich spürte mehr, als dass ich es sah, wie sich Mirkos Augen an mir festsaugten. Ich erschauderte, aber ein klein wenig genoss ich es auch, Objekt seiner Begierde zu sein. Zumindest für einen Moment hatte ich Hanna ausgestochen. Obwohl ich zugeben musste, dass sie gut aussah, wenn auch nicht so gut wie auf den Pressefotos. Ein wenig gehetzt, der Lippenstift zu rot für den Anlass und leicht verschmiert, die Haare etwas zu aufgebauscht. Aber zweifellos war Hanna nach wie vor eine Frau, die man nicht übersehen konnte. Manche Dinge änderten sich eben nie.
    Als die Orgel endlich verstummte und Fabienne ans Rednerpult trat, hörte das Hüsteln und Füßescharren schlagartig auf. Alle Augen wandten sich nach vorn, um die künftige Fernsehpfarrerin zu mustern, die aus Beerenbök stammte. Für mich war es keine Überraschung, dass Fabienne die Trauerrede hielt. Meine Mutter hatte es mir gestern direkt nach meiner Ankunft brühwarm aufgetischt: «Stell dir vor, die Fabienne kommt morgen extra aus Hamburg, um die Trauerrede für Dorit zu halten. Hiltrud hat sie darum gebeten. Dorits Mutter hätte das allein ja alles gar nicht geregelt gekriegt in ihrem Zustand. Und Fabienne hat keine Sekunde gezögert, sagt Hiltrud. Und das, obwohl die Fabienne ja eigentlich keine große Verbindung mehr nach Beerenbök hat und sicher jede Menge um die Ohren, jetzt, wo sie bald im Fernsehen ist.» Mama hatte eine kleine bedeutungsvolle Pause gemacht. «Das nenne ich pflichtbewusst …!» Dann hatte sie mir einen prüfenden Blick zugeworfen, um sich

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