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Die Schatten eines Sommers

Die Schatten eines Sommers

Titel: Die Schatten eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lia Norden
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Erste, den ich hier traf, und ich musste es endlich erfahren. «Was ist denn eigentlich passiert? Wieso ist Dorit tot?»
    «Ertrunken», antwortete er lapidar.
    «Ertrunken? Wieso ertrunken? Sie konnte doch schwimmen. Also, ich meine: gut schwimmen.»
    «Tja», sagte Mirko. «So ist das. Manche ertrinken, manche nicht. Deshalb geh ich auf Nummer sicher und geh überhaupt nicht schwimmen.»
    «Du bist widerlich, Mirko», sagte ich entsetzt.
    «Ich bin überhaupt nicht widerlich», protestierte er. «Ich hab mich um sie gekümmert. Also, vorher.»
    «Gekümmert? Was meinst du damit?»
    «Was soll ich schon meinen?» Mirko grinste anzüglich.
    Feinfühligkeit war auch noch nie seine Sache gewesen. Ich atmete tief durch. «Nun sag schon: Was war los mit ihr? Wie ging’s ihr?»
    Statt einer Antwort warf Mirko einen Blick auf seine Armbanduhr.
    «Drei vor zwölf», stellte er fest und ließ den Motor seines hässlichen Gefährts aufheulen. «Auf geht’s.»
    Auf der kurzen Fahrt zum Friedhof fragte ich mich, warum er log. Dorit hatte ihn sich keineswegs um sie «kümmern» lassen. Oder hatten die Eintönigkeit des Dorflebens und die Einsamkeit sie tatsächlich so bedürftig gemacht? Früher war sie extrem sensibel gewesen, und abgestoßen von jeder Art von Plumpheit. Ich hatte es schon immer geliebt, andere durch rüde Sprüche zu verschrecken, aber bei Dorit hatte ich mich zurückgehalten. Sie reagierte auf Gewöhnlichkeit wie ein angeschossenes Reh und hatte es tatsächlich immer wieder geschafft, mich durch ihre leidvollen Blicke zu beschämen.
    Der kleine Parkplatz vor dem Friedhof war vollbesetzt und die Trauergemeinde verschwunden. Ich parkte hinter Mirkos Wagen am Straßenrand und betrat den Friedhof. Mirko stampfte kurzatmig neben mir her. Als ich mich der Kirche zuwandte, zog er mich nach links.
    «Nicht zur Kirche», schnaufte er. «Die Atheisten kommen in die Trauerhalle.»
    Die Halle am Rande des Friedhofs war ein schlichter Backsteinbau, der die Formen der alten Kirche aufnahm. Als ich noch in Beerenbök lebte, hatte sie nur zur Aufbewahrung der Toten gedient.
    «Wie?», fragte ich erstaunt, während wir den Kiesweg entlangeilten. «Dorit war doch konfirmiert.»
    Die Sonne brannte ebenso unbarmherzig wie die Tage zuvor, und Mirko schien in seinem schwarzen Anzug einem Herzinfarkt nahe. «Ist ausgetreten», ächzte er. «Aber sie kriegt trotzdem ’ne Extra-Show. Fabienne wird das Ding schon wuppen.»
    Fabienne?! Doch es war keine Zeit mehr für Fragen. Durch das geschlossene Flügeltor der Trauerhalle drang bereits Orgelmusik. Mirko zog das schwere Eisentor mit seinen Pranken auf, und wir schlüpften hindurch.
    Drinnen blieb ich erstarrt stehen. Mein Plan, mich unauffällig auf Dorits Beerdigung zu schmuggeln, war grandios gescheitert. Die Bänke waren nicht von vorne nach hinten, sondern seitlich in zwei Halbkreisen angeordnet, in deren Mitte Dorits Sarg stand. Hilflos stand ich da, wie auf einer Theaterbühne. Alle Blicke ruhten auf mir. Mirko packte mich am Arm, zog mich nach rechts, zur hintersten Reihe, und zwängte sich mit mir im Schlepptau an einigen älteren Damen vorbei, zu zwei freien Plätzen. Ich war froh, hinter seinem massigen Körper in Deckung gehen zu können.
    Als ich es endlich wagte, den Blick zu heben, entdeckte ich Marie. Sie saß mir direkt gegenüber, auf der anderen Seite der Halle. Unsere Blicke trafen sich über Dorits blumengeschmücktem Sarg. Ich versuchte ein leises Lächeln, das sich auf der Stelle unglaublich falsch anfühlte. Marie biss sich auf die Unterlippe und schaute auf ihren Schoß. Ich war überrascht, wie gut sie aussah. Sie schien kaum gealtert, trug ihr blondgesträhntes, perfekt geschnittenes Haar schulterlang, und ihre wie angegossen sitzende Bluse war von jener Art, die nur zierliche Frauen mit schmalen Schultern und kleinen Brüsten tragen können. Erst als ich die neugierigen Blicke aus der Menge gegenüber wahrnahm, löste ich meinen Blick von Marie und versuchte, mich auf meinem Stuhl so klein wie möglich zu machen.
    Während des scheinbar endlosen Orgelspiels blickte ich auf Dorits Sarg und hatte das Gefühl, den größten Fehler meines Lebens gemacht zu haben. Ich hatte Dorit in meinem Roman die Last der Schuld so unerträglich werden lassen, dass ihr der Tod als die einzige Befreiung schien.
    Ich kannte das Dröhnen im Kopf und das Herzrasen, das nach einigen Minuten einsetzte. Panikattacken waren seit jenem Sommer meine treuen Begleiter. Sie kamen immer

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