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Die Schatten eines Sommers

Die Schatten eines Sommers

Titel: Die Schatten eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lia Norden
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nervenaufreibende Monolog eines Schauspielers in einem Solostück. Ohne die Fähigkeit, sich zu konzentrieren, kann man nicht gut sein.
    Man hatte für mich einen Platz an der Stirnseite eines langen Tisches freigehalten, und Dorits Mutter wurde über Eck platziert. Jetzt, zum ersten Mal, konnte ich nicht umhin, ihr fahles, abwesendes Gesicht zu betrachten. Ich konnte es nicht verhindern, in ihren Gesichtszügen, ihrem zusammengesunkenen Körper der Frau von damals nachzuspüren. Dorits Mutter, die immer etwas Suchendes, Lebenshungriges gehabt hatte. Manchmal hatte sie fast jünger gewirkt als ihre Tochter. Ich erinnere mich seltsamerweise sogar noch an ihre Stimme, die die eines jungen Mädchens gewesen war. Wenn wir vier uns damals bei Dorit trafen, hatte sie uns oft auf eine fröhliche, naive Weise ausgefragt, die wir uns von keiner anderen Mutter hätten gefallen lassen.
    Jetzt saß sie stumm da, und die Welt um sie herum schien sie nicht zu interessieren. Sie hatte die Augen weit geöffnet, aber ob sie etwas anderes wahrnahm als den kleingeschnittenen Butterkuchen, den man vor sie hinstellte, war nicht zu erkennen. Mit langsamen, gründlichen Bewegungen pikste sie die Kuchenstückchen auf die Gabel, führte sie zum Mund, zerdrückte und schluckte sie. Die Kaffeetasse in ihrer Hand zitterte leicht, doch sie verschüttete keinen Tropfen. Wusste sie, dass sie gerade die Beerdigung ihres einzigen Kindes erlebt hatte? Vermisste sie Dorit? Nein, sie vermisste sie nicht, jedenfalls nicht im eigentlichen Sinne des Wortes. Allenfalls fehlte ihr Dorits Hilfe. Denn niemand vermisste die arme Dorit wirklich, da war ich mir sicher.
    Mein Blick wanderte zu Tante Hiltrud, die sich an der Längsseite des Tisches Butterkuchen in den Mund schob und gleichzeitig mit einer Frau redete, in der ich ihre Nachbarin erkannte. Die, mit der sie sich seit Jahren ausgiebig stritt. Ich nickte meiner Tante mit einem herzlichen Lächeln zu, das sie strahlend erwiderte. Sie war stolz auf mich, und es freute mich, dass sie das so offen zeigte.
    Sie deutete mit dem Kinn auf einen blonden Mann im kurzen weißen Oberhemd, der an der Theke stand. «Das ist er», formten ihre Lippen fast lautlos. «Der Christian!»
    Ich betrachtete diesen Dorfpolizisten genauer. Er hatte einen unübersehbar gut trainierten Körper, aber clever wirkte er nicht gerade, wie er da in sein Bierglas starrte. Doch wenn ich in all den Jahren eines gelernt hatte, dann war es die Tatsache, dass der Schein trügen konnte. Plötzlich schaute er hoch und sah mich mit seinen babyblauen Augen an. Ja, Christian Degner … Jetzt glaubte ich mich zu erinnern.
    Ich spürte ein Kribbeln und wandte den Blick ab, schaute hinüber zu Hannas und Maries Tisch. Es ging nicht anders, ich konnte sie nicht länger ignorieren. Sie saßen jetzt nicht mehr alleine da. Ein Mann hatte sich zu ihnen gesetzt, ein Schwergewicht im durchgeschwitzten Oberhemd, das mir die Sicht auf Marie versperrte. Nur Hanna war zu sehen. Hanna mit ihren zerzausten Haaren und dem tiefrot geschminkten Mund, der weicher, verschwommener war als damals. Ihr Lippenstift war verschmiert, und ich registrierte den rötlichen Abdruck auf ihrer Kaffeetasse, die sie zwischen beiden Händen hielt. Sie starrte an dem Dicken vorbei zu mir herüber. Unverhohlen und neugierig. Nicht die Spur eines Lächelns lag auf ihrem Gesicht, und plötzlich wusste ich, was sie vorhatte. Ich reagierte eine Zehntelsekunde zu spät, um dem Spiel zu entkommen.
    Wer als Erste wegschaut, hat verloren. Tausendmal hatte sie mich herausgefordert, und tausendmal hatte ich vergeblich versucht, mich nicht auf ihre Spielchen einzulassen. Sie hatte nicht immer gewonnen, manchmal hatte ich es geschafft, sie zu bezwingen. Aber selbst in jenen Augenblicken hatte ich es mehr als eine mühsam errungene Niederlage empfunden denn als Sieg.
    Ich spürte, wie mir der Schweiß die Achseln hinunterlief, mein Mund wurde trocken. Ich schaute sie an, und alles war wieder da. Fünfundzwanzig Jahre schmolzen zu einem Nichts zusammen. Ein Vierteljahrhundert, in dem ich studiert, gearbeitet, geheiratet und mich wieder getrennt hatte, reichte nicht aus, um mich vor diesen Augen zu schützen.
    Es war Mirko Basmeier, der mich erlöste. Ausgerechnet er. Ich erkannte ihn in der Sekunde, in der er sich umdrehte. Er war offensichtlich Hannas Blick gefolgt und wollte wissen, wen sie musterte. Er war zwanzig Kilo schwerer als damals, aber seine provokative Art, Menschen – vielmehr Frauen

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