Die Schatten eines Sommers
unerwartet und in den unpassendsten Situationen, und nur selten hatte ich meine Tabletten dabei. Denn Tabletten, hatte meine Mutter mich gelehrt, waren etwas für Weicheier. Als ich mich zusammenkrümmte, um tief und ruhig durchzuatmen, fiel Mirkos Pranke auf meinen Rücken und blieb dort liegen wie ein schweres, schlafendes Tier. Ich schloss die Augen, atmete rhythmisch und betete stumm das Ave-Maria, wie jedes Mal, wenn die Angst mich auffraß. Der Glaube ist eine feine Sache, wenn man nicht mehr weiterweiß.
Tatsächlich rettete mich dieses eine Mal etwas anderes. Ich hatte nicht bemerkt, dass die Orgelmusik endlich verstummt war, aber als ich Fabiennes Stimme hörte, verlangsamte sich mein Herzschlag auf der Stelle.
Fabienne stand hinter Dorits Sarg, eine beeindruckende, hochgewachsene Erscheinung. Der Kurzhaarschnitt betonte ihre Gesichtszüge, ihre hohen Wangenknochen und das energische Kinn. Sie hielt sich gerade, eine breitschultrige, schlanke Amazone in schwarzem Kostüm. Das, was sie sagte, hatte ich zuvor schon einmal irgendwo gelesen oder gehört – aber Fabienne trug es auf eine Weise vor, dass es schien, als wären es ihre eigenen Worte.
«Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit – und Friede seine Zeit.»
Sie sprach klar und laut und wirkte dabei kein bisschen pastoral, sondern ungemein aufrichtig. Ihre Worte gaben mir das Gefühl, dass alles erklärbar war. Unsere Geschichte würde endlich ein Ende finden.
Dass Fabienne uns eine Show lieferte, merkte ich erst nach der kleinen, wirkungsvollen Pause, die sie danach setzte, und an dem mitfühlenden Blick, den sie über uns schweifen ließ.
«In meinem Leben als Pfarrerin ist dies die erste Trauerrede, die ich kaum vorbereitet habe. Dass Dorit von uns gehen musste, erfüllt mich mit großem Schmerz.»
Fabienne war an diesem Tag innerhalb kurzer Zeit der zweite Mensch, der mich anlog. Sie hatte mein Buch gelesen, ich war mir sicher. Und sie hatte sich mehr denn je darauf vorbereitet, alles zu tun, um sich reinzuwaschen vom Verdacht. Pastorin hin oder her – so sehr konnte sie sich nicht geändert haben. Sie war klug und voller Kalkül. Hier waren wir vier: sie, ich, Marie und Dorit im Sarg. Wir vier, die Protagonistinnen meines Romans über Freundschaft und Schuld. Einige Reihen vor mir saß Dorits Mutter zusammengesunken im Rollstuhl. Unser Werk.
Hatte Fabienne sich freiwillig dafür entschieden, über Dorits angeblich unbeschwerte Jugendtage zu sprechen und über die Hingabe, mit der sie sich später um ihre Mutter gekümmert hatte? Waren sich Fabienne und Dorit in den letzten Jahren nähergekommen? War dieser Auftritt ein christlicher Liebesdienst? Oder nur der Versuch, den Teil einer alten Schuld abzutragen?
Egal, was es war: Fabienne machte ihre Sache grandios. Sie war eine ebenso gute Geschichtenerzählerin wie ich. Ich war mir sicher, dass keiner außer mir bemerkte, wie sorgfältig sie das Ganze aufgebaut hatte. Sie brachte uns zum Weinen, streute kleine muntere Erinnerungen an Dorit ein, die alle versonnen lächeln ließen, und zum Schluss gab es ein angedeutetes Happy End.
«Wir sind aufgewühlt, wir suchen Trost und Halt. Wir stellen uns die Frage nach dem Warum. Aber wir sollten, auch wenn wir keinen Sinn in Dorits Tod entdecken können, versuchen, einen Punkt zu setzen. Wir sollten Dorit in Frieden gehen lassen und für uns einen neuen Anfang suchen. Wer von uns glaubt, der kann in den Worten Dietrich Bonhoeffers Trost finden: ‹In mir ist es finster, aber bei Dir ist das Licht … In mir ist Bitterkeit, aber bei Dir ist die Geduld … Ich verstehe Deine Wege nicht, aber Du weißt den Weg für mich.›»
Es war ein irritierender Moment, als Fabienne abschließend die Hände vor der Brust faltete, um sie sogleich wieder voneinander zu lösen und dann doch wieder zusammenzulegen. Und eine ganz kurze Unsicherheit lag auch in ihrer Stimme, als sie die letzten Worte über Dorits Sarg sprach:
«Wer nach Trost sucht oder Vergebung, der mag nun mit den Worten beten, die der Herr selbst uns gegeben hat: Vater unser im Himmel …»
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MARIE
Die Orgel war nicht laut genug, um Hannas Ankunft zu übertönen. In dem Moment, als sich die schweren Flügeltüren der
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