Die Schatten eines Sommers
entschuldigend. «Das ist bei ungeklärten Todesumständen so üblich. Obwohl die Obduktion eigentlich eindeutig war: Wasser in der Lunge, keinerlei Hinweise auf Drogen oder Gewalteinwirkung … Dorit ist ertrunken, ganz klar. Aber die Umstände sind doch etwas seltsam.»
«Und welche Umstände, wenn man fragen darf?» Plötzlich war Wolff neben mir aufgetaucht und bedachte Christian mit einem wachsamen Blick.
Der schien einen Moment zu zögern, unsicher, wie viel er preisgeben durfte. «Na ja, zum einen war Dorit komplett angezogen», begann er langsam. «Bis auf die Schuhe, die standen noch auf der Insel. Und das Ruderboot, mit dem sie hinübergefahren war, trieb im Wasser.»
«Aber das klingt doch alles sehr nach Selbstmord», sagte Wolff. «Wer sich ertränken will, zieht sich doch nicht aus.»
Christian schüttelte den Kopf. «Hab ich auch erst gedacht. Aber mir blieben da einfach zu viele offene Fragen. Also bin ich vor ein paar Tagen mit einem ehemaligen Kollegen von der Spurensicherung mal um den See rum und auf die Insel rauf. Leider hatte es in der Nacht nach Dorits Tod ja geregnet. Aber trotzdem …»
«So?» Peer und Wolff hatten sich erwartungsvoll vorgebeugt und schienen auf spektakuläre Enthüllungen zu warten. Doch Christian sprach nicht weiter.
Meine Kehle war trocken. Ich blickte mich suchend um. Wie auf Bestellung drückte Wolff mir ein Glas in die Hand.
«Hier, ein Schluck Prosecco, Marie.»
«Danke!» Ich stürzte die kühle Flüssigkeit in einem Zug hinunter.
Peer und Christian sahen mich etwas irritiert an. «Ich kann dir auch ein Glas Wasser bringen, wenn du Durst hast», bot Peer an.
«Nein, nein, Prosecco ist prima!»
Ich hielt Wolff mein leeres Glas zum Nachschenken hin. Ich wusste selbst nicht, was mich ritt. Nur dass ich nicht die geringste Lust verspürte, vernünftig zu sein. Sollten die beiden ruhig denken, ich hätte ein Alkoholproblem. Im Grunde konnte mir das doch egal sein, oder? Christian sah mich aufmerksam an. «Ihr wart eng befreundet, Dorit und du, oder? Also früher, meine ich.»
Fast hätte ich mich verschluckt. «Ja, aber … ich meine, das ist sehr lange her.» Plötzlich erschien mir sein Blick nicht mehr so harmlos wie zu Anfang. Konnte es sein, dass dieser Christian irgendetwas wusste? Etwas von früher? Und hier jetzt Katz und Maus mit mir spielte?
«Wir haben ihre Wohnung durchsucht, weißt du?»
«Ach so.» Ich nickte mechanisch. Mein Glas war schon wieder leer, meine Kehle dennoch trocken. Gleich würde dieser Dorfpolizist mir erzählen, dass man in Dorits Wohnung ein Tagebuch gefunden hatte oder irgendwelche anderen Aufzeichnungen, die die Ereignisse von damals genau dokumentierten, die unsere Schuld offenlegten. Gleich. Ich wagte kaum zu atmen.
Aber Christian lächelte. «Wir haben ein Foto gefunden von vier lachenden Mädchen am Lupiner See, eng umschlungen. Als ich dich und Hanna vorhin auf der Beerdigung sah, habe ich euch gleich wiedererkannt. Und die vierte auf dem Foto …»
«Das war dann wohl ich!» Ich hatte gar nicht bemerkt, dass Fabienne in der Zwischenzeit gekommen war. Jetzt schob sie sich neben mich und reichte Christian die Hand. «Hallo, ich bin Fabienne.»
Sie wirkte völlig entspannt und souverän. «Du warst auch auf unserer Schule, nicht wahr?», sagte sie zu Christian. «Ich hab dich nämlich auch wiedererkannt. An den Augen. Augen verändern sich nämlich kaum über die Jahre, wusstet ihr das?»
Sie lächelte. «Sagt mal, gibt’s hier eigentlich auch Rotwein?»
Dankbar ergriff ich die Gelegenheit, mich Christians prüfenden Blicken zu entziehen. Bevor die Männer reagieren konnten, nahm ich Fabienne am Arm. «Komm mit, ich wollte mir auch gerade noch was zu trinken holen. Ich zeig dir schnell, wo die Getränke stehen!»
In der Küchenecke war es inzwischen voll geworden. Wolff füllte Chips und Erdnüsse auf einen Teller. Als er mich sah, blitzten seine Augen kurz auf. Ich erwiderte seinen Blick, während ich mich von einer langweiligen Brünetten namens Elisabeth, die damals unser Matheass gewesen war, in ein Gespräch über Kinder ziehen ließ. Ich hätte mich lieber mit Fabienne unterhalten, aber als ich mich nach ihr umdrehte, war sie schon wieder verschwunden, vermutlich auf die Terrasse. Ich nahm mir ein Glas Wasser und wandte mich erneut Elisabeth zu.
Natürlich hatte sie Fotos ihrer Kinder dabei, die sie mir stolz präsentierte. «Schau mal, Marie: Das ist Jonas, mein Ältester, das hier ist Mia und das die
Weitere Kostenlose Bücher