Die Schatten eines Sommers
kleine Amrei. – Mensch, da fällt mir ein, dass wir kürzlich deine Schwester getroffen haben! Wie heißt sie noch gleich?»
«Katharina.»
«Stimmt: Katharina! Ich war mit Amrei bei ihr. Die Kleine leidet unter Neurodermitis, weißt du. Und deine Schwester war uns vom Kinderarzt empfohlen worden. Ich hab sie nicht gleich erkannt, sie heißt ja jetzt anders und so. Aber irgendwann habe ich es geschnallt und sie einfach gefragt. Du, die sieht immer noch so toll aus wie früher, Marie! Und eine super Ärztin ist sie auch! Amrei hat kürzlich sogar gefragt, wann wir wieder zu der Frau Doktor mit den schönen langen Haaren gehen.»
Elisabeth strahlte mich an, als hätte sie mir ein Geschenk gemacht. Ich hätte ihr gerne ins Gesicht geschlagen. Stattdessen füllte ich mein Wasserglas mit Prosecco auf, öffnete unauffällig einen weiteren Knopf meiner Bluse und steuerte entschlossen auf Bernd Wolff zu.
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FABIENNE
Ich bereute es von der allerersten Sekunde an, mich auf dieses Klassentreffen eingelassen zu haben. Hinter meinen Schläfen pochte ein feiner Kopfschmerz, der nach den zwei, drei Gläsern Rotwein noch stechender geworden war. Die Gespräche auf Wolffs Terrasse perlten an mir ab, während ich Salzstangen knabberte und geflissentlich nickte. Zum Glück lernt man es in meinem Beruf, nicht zu zeigen, was man denkt und wie man sich wirklich fühlt.
Was sollte das alles? Dieser Dorfpolizist lungerte hier herum und machte sich wichtig mit seinen vagen Andeutungen. Was sollte die Anspielung auf das Foto von uns vieren? Ich hätte gerne mehr von ihm erfahren, etwas Konkretes. Aber ich brachte es nicht über mich, ihn direkt zu fragen.
Auch Hanna und Marie benahmen sich merkwürdig. Hanna schien mir auszuweichen. Und Marie, die beim Kaffeetrinken darauf gedrungen hatte, dass wir uns nur kurz bei Wolff treffen sollten, um uns dann zu dritt zurückzuziehen, warf sich unserem ehemaligen Lehrer dermaßen an den Hals, dass es schon peinlich war. Sie trank zu viel und zu schnell, nervös wie ein Teenager vorm ersten Mal. War das ein Ablenkungsmanöver? Versuchte sie plötzlich, einem Gespräch mit Hanna und mir aus dem Weg zu gehen? Oder war sie etwa wirklich scharf auf Wolff?
Ich lag in einem unbequemen Gartenstuhl und beobachtete, wie sie mit ihm an der Terrassentür stand, in der einen Hand ein Glas, in der anderen eine Zigarette, an der sich die Asche schon bog. Sie lachte zu laut, strich sich die blonden Haare mit der Hand aus der Stirn und merkte nicht einmal, dass sie sich dabei im wahrsten Sinne des Wortes Asche aufs Haupt stäubte. Etwas in mir ließ mich aufstehen, um sie vor sich selbst zu schützen. «Du liebe Güte, Marie», wollte ich sagen, «lass es! Spiel nicht den Vamp. Du musst doch wissen, was für ein entsetzlich gefährliches Spiel das sein kann.»
Doch natürlich hielt ich meinen Mund. Marie war keine sechzehn mehr. Ich hatte kein Recht mich einzumischen, wenn sie hier eine Verführungsszene hinlegen wollte. Wo war eigentlich Wolffs Frau? Oder gab es die nicht mehr?
Während ich an Marie und Wolff vorbei ins Wohnzimmer ging, konnte ich nicht umhin, ihr die Zigarettenasche von den perfekt blondierten Haaren zu pusten. Sie sah mich irritiert an und errötete ein bisschen. «Ach, Fabienne …», sagte sie und kicherte, wobei mir ein säuerlicher Geruch entgegenwehte. Zu viel Prosecco auf leeren Magen …
Ich griff in meine Handtasche, kramte einen Mentholbonbon hervor, nahm ihr das Glas aus den Fingern und drückte ihr den Bonbon in die Hand. «Steck es in den Mund, Marie, du kannst es gebrauchen», raunte ich ihr zu, und sie errötete noch ein bisschen mehr. Mein Gott, sie hatte sich wirklich kaum verändert.
Und Hanna? Sie hatte mir diese aufdringliche SMS geschrieben, und jetzt ging sie mir quasi aus dem Weg. Es gelang ihr, jede Situation zu vermeiden, in der wir alleine gewesen wären. Sie plauderte und lachte und war immer von zwei, drei Bewunderinnen umgeben. Sie schien sich bestens zu amüsieren. Wollte sie mir weismachen, dass sie sich nicht genauso mit diesen Landeiern langweilte wie ich? Oder betrieb sie schon wieder Studien für ihren nächsten Roman? «Sommer der Sünde», Teil zwei …
Vorhin hatte ich mich Tante Hiltruds geschmierten Broten mit Griebenschmalz entzogen, indem ich – wahrheitsgemäß – behauptete, nach der Beerdigung keinen Appetit zu haben, und mich ohne Abendessen auf den Weg zu Wolff gemacht. Jetzt nagte der Hunger in mir. Ich ging in die
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