Die Schatten eines Sommers
versuchten nicht, sie aufzuhalten. Wenn Fabienne sich einmal entschlossen hatte, dann blieb sie dabei. So war es immer gewesen.
«Egal», sagte ich gleichgültig. «Wir brauchen sie nicht.»
Im Stillen bedauerte ich ungemein, dass sie fort war. Es war zwar gut, nicht mehr ihren kritischen Blicken ausgesetzt zu sein. Doch andererseits hatte sie immer und zu allem etwas Kluges zu sagen. Und außerdem war Fabienne die Einzige, die mir gewachsen war. Ich musste mich nicht mühen, Dorit und Marie von irgendetwas zu überzeugen – aber mich gegenüber Fabienne durchzusetzen war jedes Mal ein wunderbarer, kleiner Triumph.
Die kommenden Tage planten wir ohne sie weiter, überlegten, wo wir eine gute Kamera herbekommen könnten und wie wir die Fotos später Dorits Mutter zuspielen sollten.
Es dauerte etwa eine Woche, bis Fabienne wieder auftauchte. Mit ihrer Kamera. Keine von uns verlor ein Wort darüber.
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MARIE
Fremd und unwirklich war es und gleichzeitig seltsam vertraut, wieder neben Fabienne und Hanna auf einem verdörrten Stück Rasen zu sitzen und in den Nachthimmel zu schauen. In der Dunkelheit waren ihre Gesichter nur undeutlich zu erkennen, aber ihre Stimmen klangen wie früher. Ja, selbst ihre Art zu reden hatte sich in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren kaum verändert. Erst jetzt, als wir saßen, merkte ich, wie betrunken ich war. Der Boden unter mir schien zu schwanken, und mein Magen rumorte. Aber mein Hirn war klar, trotz meines Alkoholpegels. Im Grunde wusste ich selbst nicht, warum ich derart viel getrunken hatte. Aus Trauer um Dorit? Wegen Elisabeths nur schwer erträglichem Loblied auf meine Schwester? Oder wegen der seltsamen Fragen dieses Polizisten? Keine Ahnung. Jedenfalls hatte ich seit Jahren nicht mehr so viel getrunken. Früher war mir das allerdings häufiger passiert. Als Teenie hatte ich quasi jede sich bietende Gelegenheit genutzt, um meine Hemmungen zu überwinden und mein unterentwickeltes Selbstbewusstsein mit Hilfe von Alkohol aufzupäppeln. Daher war es vielleicht kein Wunder, dass ich heute in dieses Verhalten zurückgefallen war. Das, was ich hier erlebte, war nichts anderes als eine Zeitreise. Ein Blick zurück in die Vergangenheit. Je länger ich in Beerenbök war, mit Hanna, Fabienne, Mirko und den anderen, desto stärker wurde das Gefühl, mich in einem Vakuum zu befinden. Meine Familie, meine Arbeit – mein normales Leben eben –, all das war unendlich weit weggerückt. Schien keinerlei Rolle zu spielen. Ich war wieder hier, zurück in Beerenbök.
Und es war Sommer …
Als Fabienne damals ohne eine Erklärung zurückgekehrt war und wortlos ihre Kamera auf den Tisch gelegt hatte, war uns allen klar gewesen, dass wir den Plan tatsächlich umsetzen würden. Hannas Plan. Auch wenn sie jetzt so tat, als könne sie sich nicht mehr erinnern, wie es dazu gekommen war. Als wäre die Geschichte mit den Fotos eine Idee von uns allen gemeinsam gewesen. Aber das entsprach nicht der Wahrheit. Hanna hatte schon immer die Fähigkeit gehabt, Dinge, die ihr nicht in den Kram passten, kurzerhand auszublenden. In diesem Fall ohne Erfolg. Denn ich erinnerte mich nur zu gut. Viele Dutzend Male waren die Ereignisse von damals wie ein Film vor mir abgelaufen. Ob ich gewollt hatte oder nicht …
«Wow, Marie, wie siehst du denn aus?!» Dorit hatte große Augen gemacht, als sie mich damals, kurz vor dem Tag, der unser aller Leben verändern sollte, zum Treffen der Unzertrennlichen abgeholt hatte. «Du bist ja kaum wiederzuerkennen!»
Ich hatte unsicher gekichert. «Und? Ist das gut oder schlecht?»
«Gut! – Also, ich meine: Nicht dass du sonst nicht irgendwie hübsch wärst. Aber mit all dem Make-up und den Klamotten … Hey, du siehst richtig heiß aus, Marie!»
Auch ich konnte mich von meinem Spiegelbild kaum losreißen. Dorit hatte recht: Ich sah wirklich sexy aus! Mindestens so sexy wie Hanna! Na ja, natürlich auf ganz andere Weise als sie. Hanna war im Grunde schon eine Frau. Ich aber wirkte in Katharinas hauchzarter weißer Tunika, die ich als kurzes Kleid trug – ohne BH , dafür mit jeder Menge Wimperntusche, zartgrauem Lidschatten und rosa Lipgloss –, wie eine junge Verführerin in einem dieser softgezeichneten, handlungsarmen Filme von David Hamilton aus den Siebzigern.
Dorit hatte sich einen Apfel aus unserer Obstschale geschnappt, biss hinein und musterte mich von der Seite. «Und, wozu das Ganze? Hast du was Besonderes vor? Oder geht es … um
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