Die Schatten eines Sommers
Erste, die sprach. Ich war immer die Erste gewesen. Weil irgendjemand die oder der Erste sein muss. Immer, überall.
«So», sagte ich. «Dann sind wir jetzt nach Protokoll also alle versammelt, außer Dorit, aber die ist ja entschuldigt.»
Marie hatte sich eine Zigarette angezündet und stieß den Rauch heftig durch die Nase aus. «Dass du immer noch so … so sarkastisch sein musst. Das ist so … geschmacklos!» Zornig starrte sie mich an. «Es läuft nicht mehr nach deinen Regeln», wiederholte sie. «Ich! Verstehst du? Ich bestimme, was ich tue. Ich! Ich spiel dein Spiel nicht mehr!»
Fabienne beugte sich vor und legte Marie die Hand aufs Bein. «War es so schrecklich für dich damals?», fragte sie sanft.
Marie hob resigniert die Schultern. «Nein. Ja. Natürlich! Aber vergesst es. Ich hätte ja gehen können. Mir andere Freundinnen suchen.»
«Aber das wolltest du nicht», stellte Fabienne fest. «Du wolltest …»
«Gequält werden?», ergänzte Marie bitter.
«Tut mir leid, Marie.» Schon zum zweiten Mal an diesem Tag entschuldigte ich mich. Das passierte mir sonst monatelang nicht.
«Es muss dir nicht leidtun. Ich war ja selber schuld. Nur der Schluss. Die Rolle, die du mir da zugewiesen hast. Das werfe ich dir vor.»
Ich sah sie verständnislos an. «Mir? Aber wir haben uns das zusammen ausgedacht! Alle zusammen! Und du hast gesagt, du willst es tun!»
«Ja, so steht es in deinem Buch. Aber so war es nicht. Du hast das bestimmt!»
Hilfesuchend wandte ich mich an Fabienne. «Habe ich das?»
Fabienne sah mich nachdenklich an. «Du warst … dominant.»
Ich versuchte, mich zu erinnern, wer damals was gesagt hatte und wie es dazu gekommen war, dass Marie die Hauptrolle in unserem Stück übernommen hatte – aber es gelang mir nicht. Ich hatte die Ereignisse in meinem Roman so lange gedreht und gewendet, zugespitzt und verändert, bis die Wahrheit mir entglitten war.
In meiner Erinnerung war Marie an einem unserer Nachmittage am See aufgetaucht, geschminkt, frisiert und gestylt. Sie war die Unauffälligste von uns gewesen, aber ihr Gesicht war wie ein weißes Blatt, auf dem man malen konnte. Sie war diejenige, die sich am besten herzurichten verstand. Diesmal hatte sie sich selbst übertroffen.
Wir hatten bis zu diesem Tag niemals darüber gesprochen, wer die Hauptrolle in unserem Drama übernehmen sollte. Überhaupt war das Ganze nicht mehr als ein Gedankenspiel gewesen. Erst als Marie sich uns wie bei einem Casting präsentierte, geriet der Stein wirklich ins Rollen. Wir waren beeindruckt gewesen von ihrer verblüffenden Attraktivität und Ausstrahlung. Selbst Fabienne hatte ihr ein Kompliment gemacht, und dann war es entschieden: Marie würde die Verführerin spielen.
Vielleicht hatte ich damals tatsächlich gesagt: «Du machst es, Marie!» Aber was hieß das schon. Ich war immer diejenige gewesen, die den ersten Vorstoß machte. Manchmal widersprach Fabienne. Meistens hob sie nur kritisch die Augenbrauen, wenn sie nicht einverstanden war. Und ganz selten hatte sie diesen Satz gesagt, den ich bis heute nicht vergessen habe: «Ich bin raus.»
Als unsere Hauptdarstellerin feststand, unsere Planungen konkreter wurden, zog Fabienne sich plötzlich zurück. Schon in den Wochen zuvor war sie die Einzige gewesen, die Dorits Klagen hin und wieder durch kritische Fragen unterbrochen hatte. «Haben deine Eltern sich wirklich so gut verstanden?», hatte sie wissen wollen. «Warum hat deine Mutter sich denn in diesen Arne verliebt? Und wieso hat dein Vater nicht mehr um sie gekämpft?»
Dorit konnte und wollte ihr nicht antworten, und auch Marie und ich hatten uns nicht beirren lassen. Wir wollten uns verschwören. Wir hatten nichts Besseres zu tun, in diesen langen Ferien, als einen Plan zu schmieden. Irgendeinen.
Ich begann, ein Drehbuch zu entwerfen. Schrieb immer wieder um, was Marie wann und wie sagen und tun sollte. Fabienne sollte die Fotos machen. Sie hatte als Einzige von uns eine Spiegelreflexkamera mit jeder Menge Objektiven. Sie fotografierte viel, sonderbare Dinge, abgebrannte Scheunen, verwelkte Blumen, tote Katzen, Essensreste – und uns, wenn wir uns unbeobachtet fühlten.
An einem heißen Nachmittag in Maries Garten begannen wir dann, über einen konkreten Termin für unsere Inszenierung nachzudenken. Fabienne hörte schweigend zu, bis wir uns auf einen Tag geeinigt hatten, und dann sagte sie es: «Ich bin raus.» Sie erklärte sich nicht, sie stand einfach auf und ging.
Wir
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