Die Schatten eines Sommers
versteckt, ihr drei. Ihr könnt doch mich alten Mann nicht so lang alleine lassen.»
«Wir kommen gleich, Herr Lehrer», antwortete Marie mit einem mädchenhaften Augenaufschlag und lächelte.
Jetzt lachte auch Wolff. Ein eitles, kehliges Lachen, in dem eine ordentliche Portion Geilheit mitschwang. Plötzlich fielen mir die Geschichten ein, die damals über ihn kursiert hatten. Wolff, der Lehrer, der gerne mal eine bessere Note vergab, wenn ein Mädchen ein bisschen netter als nett zu ihm war. Hanna hatte ihn richtig zappeln lassen und sich darin gesonnt, dass sie ihn hätte haben können, wenn sie nur gewollt hätte. Doch letztlich waren es immer nur Gerüchte gewesen. Gerüchte, die mit heißen Ohren verbreitet wurden.
«Nicht gleich, sondern sofort, mein Fräulein!», befahl Wolff mit gespielter Strenge. Er reichte Marie die Hand und half ihr aufzustehen.
«Sofort», wiederholte Marie. Sie lehnte sich an ihn, um nicht zu schwanken.
«Lasst uns noch mal reden, ja? Morgen!», rief sie uns noch über die Schulter zu, bevor die beiden in Richtung Terrasse verschwanden. «Zehn Uhr, Frühstück im Café Waldhorn!»
Hanna und ich sahen ihnen wortlos nach.
«Du meine Güte», stöhnte Hanna und verdrehte die Augen. «Das ist ja platter als in jedem schlechten Roman.»
Ich sog tief die nach Sommer riechende Nachtluft ein. «Apropos: Um mal auf deinen Roman zurückzukommen … Warum, Hanna? Warum um alles in der Welt hast du dieses Buch geschrieben? Was sollte das? Wir haben uns doch alle bemüht zu vergessen, was passiert ist, oder nicht? Warum hast du alles wieder aufgewühlt?»
Hanna schaute immer noch an mir vorbei in den Garten. «Vergessen? Dorit hat das Ganze bestimmt keine einzige Sekunde vergessen, mit ihrer Mutter tagtäglich an ihrer Seite.» Jetzt sah sie mich an. «Fabienne», sagte sie, «ich musste mir diese Sache von der Seele schreiben, verstehst du?»
Ich lachte bitter.
Die Sache!
Na klar, so war das für eine Schriftstellerin. Das Leben wurde zu einer
Sache
, obendrein zu einer, mit der man ganz gut Geld verdienen konnte. Aber die
Folgen
für andere, die hatte sie kein bisschen bedacht.
«Schön, wenn es deiner Seele jetzt bessergeht», sagte ich. «Aber was du da geschrieben hast, Hanna, das war trotzdem Mist.»
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. «So? Meinst du?»
«Ja! Du bist haarscharf an der Wirklichkeit vorbeigeschlittert.»
«Ich bitte dich, Fabienne! Es ging mir dabei doch nicht um die Wirklichkeit. Hältst du dich in deinen Predigten etwa an historische Fakten?»
Ich spürte, wie die Wut in mir hochstieg. «Hier geht es nicht um mich. Hier geht es um dein unseliges Buch – und darum, wie du versucht hast, deine Schuld kleinzuschreiben. Du lässt mich damit angeben, dass meine neue Kamera aus großer Entfernung Details gestochen scharf aufnehmen kann, und schiebst mir die Idee in die Schuhe, tatsächlich mal so richtig scharfe Fotos machen zu wollen. Du tust fast so, als wäre meine Kamera schuld an der ganzen Sache gewesen.»
«Blödsinn», zischte Hanna. «Die Kamera natürlich nicht. Aber hab ich es etwa falsch in Erinnerung, dass du es warst, die die Fotos abgeschickt hat? Du hast sie in den Umschlag gesteckt und den Brief eingeworfen! Vielleicht wäre alles nur ein Spiel geblieben. Aber du fandest es ja feige, das Ding nicht durchzuziehen. Du hast den Brief abgeschickt, Fabienne!
Du
warst das!
Ich sah sie hasserfüllt an. «Es war
dein
Plan, Hanna, und das weißt du auch! Genauso, wie es
dein
Buch ist, das für Dorits Tod verantwortlich ist.»
Hannas Augen wurden schmal. «Ach ja? Ganz allein
mein
Plan war das? Das weißt du noch so genau? Und ich weiß, dass
mein
Buch nicht schuld an Dorits Tod ist! Sie hat sich nicht umgebracht. Es war kein Selbstmord!»
Ich zwang mich zur Ruhe. «Woher willst du das denn wissen?»
«Christian ist davon überzeugt, dass alles gegen Selbstmord spricht.» Hannas Stimme war plötzlich ruhig und kühl. «Ich bin raus, Fabienne. Christian glaubt, dass Dorit ermordet wurde.»
Wieder ging mir ein Stich durchs Herz. «Glaubt er das? Ja, meine Liebe, ich kann verstehen, dass dich das erleichtern würde. Aber hier sind wir mal wieder bei der Frage der Wahrheit. Hat er denn irgendwelche Beweise, unser kleiner Sherlock Holmes? Hat er dir irgendetwas gesagt, was seine Theorie untermauern könnte?»
Hanna zuckte die Schultern. «Er hat eine ganze Menge gesagt. Aber warum fragst du ihn nicht selbst?» Sie grinste mich an, langte nach der
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