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Die Schatten eines Sommers

Die Schatten eines Sommers

Titel: Die Schatten eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lia Norden
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kann mich nur an den Schwindel in meinem Kopf und an meinen flauen Magen erinnern und an diese unglaubliche Beschwingtheit, das Gefühl, die Welt aus den Angeln heben zu können.
    Mittlerweile bestehen für mich solche schlaflosen Nächte eher aus Arbeit, was nicht minder befriedigend ist. Wenn ich am Computer sitze, kann ich die Zeit vergessen. Das konzentrierte Schreiben von Predigten, Kommentaren, Artikeln oder Skripten für meine neue Sendung erfüllt mich mit höchster Zufriedenheit.
    Nachdem ich die Party bei Wolff verlassen hatte, war mir klar, dass ich nicht würde schlafen können. Die Begegnung mit Hanna – oder treffender ausgedrückt: unser Streit – hatte mich aufgewühlt. Ihre Egozentrik war mir unter die Haut gegangen und ließ mir keine Ruhe. Aber auch Maries unmögliches Verhalten machte mich nervös. Ich ahnte, mit welchen Selbstvorwürfen sie sich nach dieser Nacht herumschlagen würde, und sie tat mir leid. Ich hätte besser auf sie aufpassen sollen. Auf dem Weg durch die Sommernacht zu Tante Hiltruds Haus formulierte ich in Gedanken ein paar tröstende Worte, mit denen ich Marie vielleicht ein wenig Seelenfrieden spenden konnte. Ich fand es nicht verwerflich, dass sie mit Wolff ins Bett gegangen war. Nein, nichts Menschliches ist mir fremd. Ich hoffte nur, dass sie ihre Familie damit nicht gefährdet hatte.
    Der Morgen hatte den Himmel schon in ein zartrosa Licht getaucht, die Vögel zwitscherten so laut, dass sie fast an südliche Zikaden erinnerten, und die Luft war so wunderbar mild, dass es eine Sünde gewesen wäre, sich jetzt noch in dem muffigen, überhitzten Zimmer meines Cousins zu verkriechen. In Tante Hiltruds Vorgarten stand ihr Fahrrad. Es war nicht abgeschlossen. In Beerenbök mochten zwar irritierende Dinge geschehen, aber Fahrraddiebstahl gehörte nach wie vor nicht zu den Verbrechen, die das Dörfchen beunruhigten. Ich nahm das Rad, schob es aus dem Garten und schwang mich auf den Sattel.
    Ich mache mir selten etwas vor – auch das ist eine der Eigenschaften, die zu einem selbstbewussten, selbstbestimmten Leben führen. Und so redete ich mir auch nicht ein, dass es der Zufall war, der mich auf meiner Fahrt durch das stille Dorf und hinaus in die erwachende Natur ausgerechnet zum Lupiner See führte. Ich wollte zu unserem See, zu dem Ort, an dem wir in jenem Sommer so oft gewesen waren. Hanna, Marie, Dorit und ich. Der See, der Dorit zum Verhängnis geworden war. Ich wollte den Ort ihres Todes noch einmal sehen, wollte ein stilles Gebet für sie sprechen und dann dieses Kapitel meines Lebens für immer schließen. Ich würde für Dorits Seele beten, zu Tante Hiltrud zurückradeln und dann Mirko aufsuchen, um nach meinem Auto zu fragen. Ich würde nach Hause fahren, zurück in mein geordnetes Leben. Mein Bedürfnis, Hanna noch einmal wiederzusehen, tendierte gegen null. Sie war nicht gut für mich. Im Grunde hatte ich das bereits damals gewusst, auch wenn ich nicht imstande gewesen war, konsequent zu handeln. Heute mangelte es mir nicht mehr an Konsequenz. Ich tat, was getan werden musste. Selbst dann, wenn es schmerzte.
    Als ich das Rad meiner Tante den Waldweg zum See hinunterschob, sah ich, dass es schon einen morgendlichen Besucher gab. Am Rande des blaugrauen Wassers stand ein Mann, die Hände in die Seiten gestützt, und schaute konzentriert zu der kleinen Insel hinüber.
    Für einen Moment verspürte ich Unmut. Ich werde nicht gerne in meinen Vorhaben gestört. Und als ich erkannte, dass es Christian war, wallte geradezu Wut in mir auf. Ich hörte Hannas Worte: «Er hat eine ganze Menge gesagt. Warum fragst du ihn nicht selbst?» Ich dachte an ihr spöttisches Lächeln, ihre arrogante Miene, mit der sie jede Schuld an Dorits Tod von sich wies, weil die Polizei einen Selbstmord ausschloss.
    Ich atmete tief durch. Die Luft roch nach Sommer, aber sie hatte auch etwas Modriges. Wahrscheinlich hatte die Hitze und der mangelnde Regen den See trübe gemacht und sein Wasser umkippen lassen.
    Nun gut, dann würde ich also mit Christian reden und mir anhören, was er zu Hannas Entlastung vorzubringen hatte. Es konnte nichts Gravierendes auf Mord hindeuten, sonst wäre längst die Kriminalpolizei aufgetaucht. Irgendein Profi, der sich besser aufs Spurenlesen verstand als Beerenböks Dorfpolizist.
    «Guten Morgen, Christian!» Ich versuchte, weder allzu aufgeräumt und fröhlich zu klingen noch zu defensiv.
    Er drehte sich um, und auf seinem hübschen, nichtssagendem Gesicht

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