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Die Schatten eines Sommers

Die Schatten eines Sommers

Titel: Die Schatten eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lia Norden
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spiegelte sich Erstaunen. «Frau Pastorin? Fabienne, was machst du denn hier?» Er kam ein paar Schritte auf mich zu.
    Ich lächelte. «Wahrscheinlich das Gleiche wie du. Ich wollte den Ort sehen, an dem Dorit zu Tode gekommen ist.» Mein Blick ging hinaus über das Wasser, das glatt und reglos in der Morgensonne lag. «Und ich wollte ein Gebet für sie sprechen.»
    Christian schaute verlegen zu Boden. «Wenn ich dich störe …»
    «Nein, nein», erwiderte ich. «Bleib nur. Meine Gedanken sind bei Dorit, dafür muss ich nicht alleine sein.»
    Christian blieb stumm neben mir stehen, und wir schauten gemeinsam zur Insel hinüber.
    «Sie war ein hübsches Mädchen», sagte er schließlich. «Ich kann mich nicht mehr genau an sie in der Schulzeit erinnern. Aber ich habe das Foto gesehen, das Bild von euch vieren, damals. Ihr wart alle vier schön, jede auf ihre Weise.»
    «Ja», antwortete ich, «jede auf ihre Weise.»
    «Und sie war eine gute Schwimmerin.»
    Ich wartete, und er redete weiter. «Ich verstehe einfach nicht, warum sie ertrunken ist. Aber es muss eine Erklärung geben.»
    «Hanna sagt, du glaubst nicht an Selbstmord?»
    Er schüttelte den Kopf. «Es hat keinen Abschiedsbrief gegeben, keine Andeutung, keine Warnung, nichts.»
    «Aber ist das nicht öfter der Fall? Ich habe schon einige Menschen stützen müssen, die dem Freitod ihrer Liebsten völlig überrascht und hilflos gegenüberstanden.»
    Christian legte seine Windjacke auf den Boden, setzte sich und nickte mir auffordernd zu. Als ich mich neben ihm niederließ, seufzte er. «Da hast du recht. Es ist für die Hinterbliebenen immer schwer nachzuvollziehen, was einen Menschen in den Tod getrieben hat.»
    Auch ich musste seufzen. «Nun, Dorits Leben war sicher kein einfaches …»
    «Sicher, nach allem, was ich weiß.»
    Eine Weile schwiegen wir wieder, dann sprach Christian weiter: «Aber man kann nicht einfach ertrinken, nur weil man es will, selbst wenn man so tief wie möglich unter Wasser taucht. Der Lebenswille ist stärker, er bringt den Menschen zwangsläufig dazu, wieder aufzutauchen, Luft zu holen.»
    Ich schloss für einen Moment die Augen und sah Dorits blasses Gesicht vor mir, auf dem sich immer hektische rote Flecken bildeten, wenn sie sich aufregte. Dorit, die einen weitaus stärkeren Willen hatte, als man ihr zutrauen mochte. Als ich die Augen wieder öffnete, lag Christians Blick auf mir.
    «Ja, der Lebenswille …», sagte ich, «der ist manchmal geschwächt, wenn das Dasein uns zu sehr drückt.»
    Immer noch schaute Christian mich an, als erwarte er von mir eine profunde, professionelle Antwort. «Glaubst du wirklich, dass das eigene Leben jemanden so sehr belasten kann, dass es den Menschen buchstäblich nach unten zieht? Dass man dann wirklich ertrinken kann, auch als gute Schwimmerin?»
    Ich zuckte die Schultern. «Das weiß ich nicht. Ich meinte das eher metaphysisch.»
    Eine Entenfamilie zog am Ufer entlang und hinterließ eine dunkle Spur im Wasser.
    «Aber da ist noch etwas, das nicht zu Selbstmord passt», sagte Christian. «Dorits Auto war nicht da und auch kein Fahrrad.»
    Ich schaute ihn fragend an. «Und?»
    «Wie ist sie zum See gekommen? Sie wird doch die weite Strecke nicht zu Fuß gegangen sein.»
    «Hmm … Vielleicht ist sie doch mit dem Rad gefahren, und jemand hat es mitgenommen, wenn es nicht abgeschlossen war. So etwas kommt vor.»
    «Aber ihr Rad steht zu Hause im Schuppen. Das habe ich überprüft, und ihr Auto parkt in der Garage.»
    «Tja, das ist allerdings seltsam.» Ich überlegte. «Weißt du», sagte ich, «kann das nicht ein Indiz für Selbstmord sein? Viele Menschen wollen eine gewisse Ordnung hinterlassen, wenn sie aus dem Leben scheiden, das kenne ich gut. Und Dorit war sehr ordentlich, geradezu pedantisch. Vielleicht ist sie zu Fuß gegangen, weil sie wusste, dass ihr Auto sonst am See stehen bleiben würde.»
    «Vielleicht …» Christian klang nicht überzeugt.
    «Im Angesicht des Todes tun die Menschen die merkwürdigsten Dinge.»
    «Ich weiß.» Christian nahm ein paar Steinchen in die Hand und warf sie eins nach dem anderen ins Wasser. «Ich habe Hannas Buch gelesen», sagte er unvermittelt. «Deshalb habe ich nicht geschlafen. Ich habe es in einem Rutsch verschlungen.»
    Ich lachte. «Fandest du es so gut?»
    Christian erwiderte mein Lachen. «Ich fand es sehr interessant.»
    «Es ist eigentlich mehr so ein Schmöker für Frauen, denke ich.»
    «Da hast du recht. Aber der Klappentext hat mich

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