Die Schatten eines Sommers
angesprochen. Vier Freundinnen, die ihre Sommerferien an einem See vertrödeln, die sich langweilen … Unwillkürlich kam mir das Bild von euch vieren in den Sinn.» Er lachte noch einmal fast entschuldigend. «Ich finde, da gibt es gewisse Parallelen, oder nicht?»
«Sicher. Hanna wurde natürlich durch ihre Jugendzeit inspiriert. Aber diese Geschichte mit den getürkten Fotos … die ist doch eher typisch für einen reißerischen Roman als für das wirkliche Leben.»
Christian sagte nichts, und in der Stille dieses Morgens hörte ich, wie heftig mein Herz klopfte. Hanna! Natürlich hatte sie ihren verdammten Roman viel zu dicht an der Wirklichkeit geschrieben. Man musste kein Polizist sein, um eins und eins zusammenzuzählen. Auch wenn kaum jemand etwas von der Geschichte damals wusste, würde es Gerüchte geben. Das hätte sie doch wissen müssen!
Ich spürte auf einmal meine Müdigkeit und rieb mir die Schläfen. Wer wusste eigentlich alles von der Sache mit den Fotos außer Hanna, Marie und mir? Gab es jemanden, der Christian gegenüber Andeutungen gemacht haben konnte? Spielte er nur den Ahnungslosen? Ich war mir sicher, dass Dorit niemandem davon erzählt hatte, dafür hatte sie ein viel zu schlechtes Gewissen gehabt. Und ihre Mutter? Es hieß, dass sie durch den Unfall einen Ausfall ihres Gedächtnisses erlitten hatte und sich an die Zeit direkt davor nicht erinnern konnte. Stimmte das immer noch?
Und was war mit Arne, dem damaligen Geliebten von Dorits Mutter? Tante Hiltrud hatte mir irgendwann einmal erzählt, dass er bereits wenige Wochen nach dem Unfall seine Sachen gepackt hatte und weggezogen war. «Männer halten so was nicht aus», hatte sie geseufzt, «die können mit so einem Schicksalsschlag nicht umgehen. Der hat sich aus dem Staub gemacht, nachdem sich seine schöne Geliebte in ein bedauernswertes Ding verwandelt hat.» Dieser Arne hatte sicher auch nicht gerade ein gutes Gewissen. Vielleicht hatte er es vorgezogen, den Mantel des Schweigens über diese Episode seines Lebens zu breiten. Was sicher klug gewesen war. Man weiß ja, dass bei diesen Sexgeschichten immer etwas hängenbleibt, was den Ruf beschädigt. Ja, Arne hatte geschwiegen, sonst wäre unser Geheimnis nicht all die Jahre so sicher verborgen geblieben.
Es war eindeutig: Wenn Hanna nicht dieses Buch geschrieben hätte, wäre der Stein nicht ins Rollen gekommen. Hanna war schuld, niemand anderes als Hanna! Dorit hatte das genauso gesehen, auch wenn sie ihr auf eine märtyrerhafte Weise geradezu dankbar gewesen war. Dankbar, dass das Schweigen endlich gebrochen wurde. Wieso hatte sie nicht verstanden, dass Geschehenes nicht plötzlich ungeschehen ist, nur weil man sein Gewissen erleichtert?
Ich stand auf. «Es tut mir leid. Aber ich bin todmüde. Ich muss mich unbedingt noch ein wenig hinlegen.»
«Selbstverständlich.» Christian half mir, das Rad den Hang hochzuschieben, und holte sein eigenes, das im Gras gelegen hatte. Doch dann lehnte er es an einen Baum. «Ich bleibe noch ein bisschen», sagte er. «Ich will noch mal über die ganze Geschichte nachdenken. Vielleicht hätte ich doch eine offizielle Ermittlung beantragen sollen …»
«Eine offizielle Ermittlung?» Ich sah ihn an, doch er schaute unverwandt zur Insel, die im Morgennebel über dem Wasser zu schweben schien. «Da ist noch das Ruderboot», sagte er, als spräche er mit sich selbst.
«Was ist mit dem Boot?»
«Es trieb auf dem See.»
«Ja? Ist das von Bedeutung?»
Christian zuckte mit den Schultern. «Vielleicht.»
«Dorit wird zur Insel gerudert sein. Das haben wir früher oft gemacht.»
«Ja, sie war eindeutig auf der Insel. Wir haben ihre Schuhe dort gefunden, ihre Sandalen. Und ein Loch, das sie gegraben haben muss. Sie hatte schmutzige Fingernägel.»
«Ein Loch? Wie ein Grab?»
«Nein, nein, es war nicht besonders groß. Ich habe nicht die geringste Idee, warum sie mitten auf dem Inselchen ein Loch gegraben hat.» Er ließ seinen Blick über die Sträucher und den Waldweg streifen. «Wenn es nicht diesen heftigen Sommerregen gegeben hätte, an dem Wochenende, dann würde man womöglich noch mehr Spuren finden können.»
«Was für Spuren?»
«Fußspuren, auf der Insel und auch hier. Oder von Autoreifen. Irgendetwas, aus dem man schließen könnte, dass Dorit nicht alleine war.»
«Aber es hat geregnet?» Ich lächelte bedauernd. «In Hamburg ist seit vier Wochen kein Tropfen runtergekommen.»
Christian drehte sich zu mir. «Du wohnst in
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