Die Schatten eines Sommers
«Ich hab Fabienne getroffen. Vorhin, am See. Sie ist ja hundertprozentig davon überzeugt, dass es Selbstmord war. Sie hat sich allerdings sehr … allgemein ausgedrückt. Hmm …» Er schien nachzudenken, dann sagte er: «Hatten Fabienne und Dorit eigentlich Kontakt in den letzten Jahren? Immerhin lebt Fabiennes Tante ja noch im Dorf.»
«Ich weiß es nicht. Fabienne und ich haben uns gestern seit der Schulzeit zum ersten Mal wiedergesehen. Wir haben überhaupt noch nicht richtig miteinander gesprochen.»
Wieder nickte er bedächtig. «Schade eigentlich. Wo ihr damals doch so eng befreundet wart.»
Ich fühlte mich zunehmend unwohl. «Vielleicht solltest du doch noch mal bei Mirko nachhaken», schlug ich vor.
«Sicher. Das mach ich», versicherte er mir freundlich. «Und wenn dir noch was anderes auffällt … bestimmt sprecht ihr gleich beim Frühstück ja über alles.»
Ich fragte nicht, woher er von unserem gemeinsamen Frühstück wusste.
Als ich ins Auto stieg, überfiel es mich blitzartig. Da war noch etwas, was seit gestern an mir nagte. Etwas, das Fabienne bei unserem Streit nebenbei erwähnt hatte. Über Dorit. Ich kurbelte die Scheibe runter. «Hast du eigentlich mal mit Dorits Arzt gesprochen?», fragte ich Christian durchs offene Fenster.
«Klar.»
«Und?»
«Schweigepflicht. Du verstehst.»
Ich nickte enttäuscht.
«Wieso fragst du?»
«Ach … Ich hab gehört, dass sie neuerdings Asthma gehabt hatte. Hatte sie früher ja nicht.»
Er musterte mich. «Asthma. Hmm. Ja, das hatte sie wohl. Das haben viele Menschen …»
«Und weiß man denn, ob …»
Christian unterbrach mich. «Sorry, Schweigepflicht.» Dann klopfte er kurz aufs Autodach. «Also dann, vielleicht bis bald.»
Ich sah ihm nach, wie er die Straße hinunterradelte, dann gab ich Gas.
Das Café Waldhorn war nichts Besonderes, ganz im Gegenteil. Es lag am Rand eines Wäldchens und gehörte zu jenen hässlich möblierten Provinzgaststätten, die einen selbst dann melancholisch stimmten, wenn man eigentlich guter Dinge war.
Marie saß bereits auf der Terrasse. Ich registrierte mit Genugtuung, dass sie zerknittert aussah.
«Warum ausgerechnet hier?», fragte ich sie vorwurfsvoll.
«Weil es ruhig und leer ist», erwiderte sie entschuldigend. Sie hatte recht, außer uns saßen nur noch zwei ältere Ehepaare draußen.
«Vor allem», ergänzte sie müde lächelnd, «ist es nicht bei meiner Mutter.»
Letzteres war definitiv der beste Grund, sich sonst wo zu treffen. Das war damals schon so gewesen. Ich erinnerte Maries Mutter als eine unglaublich nervtötende und aufdringliche Person. Wenn wir uns früher, was selten genug geschah, bei Marie trafen, befragte sie uns intensiv nach Eltern, Schule, Freunden. Aber nie schien sie wirklich interessiert, sondern immer nur neugierig, sensationslüstern. Noch nachdrücklicher war mir ihre Art im Gedächtnis geblieben, Marie in deren Beisein schlecht dastehen zu lassen. «Du bist ja so klug, Fabienne, deine Eltern sind bestimmt sehr stolz auf dich», sagte sie beispielsweise. «Marie braucht ja für alles immer etwas länger, da ist sie auch ganz anders als ihre Schwester.»
Die Kellnerin kam und nahm unsere Bestellung auf. Wir waren beide hungrig und entschieden, auch ohne Fabienne anzufangen. Mir war es recht, dass sie noch nicht da war. Auch wenn Marie mich weiter für die Schuldige hielt – sie war die Einzige, mit der ich über Fabiennes sonderbares Verhalten sprechen konnte.
Ich berichtete Marie von meinem Gespräch mit Christian und dass ihm aufgefallen war, wie sehr Fabienne auf Dorits Selbstmord beharrte. «Das ist doch schräg, dass sie sich so verhält.»
«Fabienne verhält sich immer schräg», stellte Marie fest. Ganz augenscheinlich war auch sie nicht daran interessiert, Dorits Tod aufzuklären. Ich und mein Buch trugen die Schuld, das war für Marie eine saubere Sache – so sauber wie ihre perfekt gebügelte, strahlend weiße Bluse. Weiße-Blusen-Frauen sind nicht bereit, einmal gefasste Meinungen zu ändern oder überhaupt einmal um die Ecke zu denken. Außer, es ist Alkohol im Spiel.
Wie aufs Stichwort senkte Marie jetzt den Blick und holte hörbar Luft. «Ich hab gestern Abend wohl ein bisschen viel getrunken … Ich weiß auch nicht … Das war …»
Sie wand sich und war offensichtlich hin- und hergerissen, ob sie mir nun etwas erzählen sollte oder nicht. Ich hätte nichts gegen ein paar schöne Details über ihre Nacht mit Wolff gehabt. Aber schließlich biss sie
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