Die Schatten eines Sommers
Marie! Und wie! So fertig habe ich sie noch nie gesehen!! Sie hat mich gefragt, ob ich davon gewusst hätte? Ob das wirklich stimmt? Oder ob das Ganze ein dummer, unüberlegter Scherz gewesen ist? Marie, was soll ich ihr sagen?! – Ich hab solche Angst! Marie, sag mir, was ich tun soll! Soll ich ihr lieber die Wahrheit sagen?»
Ich blickte auf meine Finger hinunter, die plötzlich brannten. Ich hatte mir die Nägel blutig gebissen, ohne es zu merken. Ich zögerte. «Farbloser, blasser Spargel» hatte Arne mich genannt. «Farbloser, blasser Spargel …»
«Sag kein Wort!», zischte ich. «
Du
warst diejenige, die Arne unbedingt loswerden wollte. Und jetzt sind wir so gut wie am Ziel.» Ich schwieg eine Sekunde, während ich Dorit am anderen Ende atmen hörte. «Was man angefangen hat, muss man auch zu Ende bringen.» Dann hatte ich den Hörer auf die Gabel gelegt.
Wie oft habe ich seit damals versucht, dieses letzte Telefonat mit Dorit zu verdrängen, es aus meinem Gedächtnis zu löschen. Aber je mehr ich es versucht habe, umso präsenter wurde es. Manchmal glaubte ich, mich an jedes einzelne Wort erinnern zu können, das gesprochen worden war. Ich erinnerte mich an Dorits Hysterie, an die Verzweiflung, mit der sie meinen Rat, ja eine Entscheidung, eingefordert hatte. Und an meine Antwort. Die an Klarheit nicht zu überbieten gewesen war. Und die einem Todesurteil gleichgekommen war.
Niemals hatte ich irgendjemandem von diesem Telefonat erzählt, von Dorits Zweifeln im letzten Moment. Dass es eine Möglichkeit gegeben hatte, das Steuer noch in allerletzter Sekunde herumzureißen. Und von meinen Worten, die das verhindert hatten.
Gewiss, nach dem Unfall hatte es auch kaum noch Gelegenheit gegeben, mit den anderen darüber zu reden. Und ich, ich hatte eine Aussprache darüber zwar einerseits herbeigesehnt, aber noch viel mehr gefürchtet. Daher war ich froh gewesen, dass wir alle vier vermieden hatten, uns zu treffen. Keine wollte ihre Schuld in den Augen der anderen gespiegelt sehen. So blieb dieses Telefonat am Tag des Unglücks mein Geheimnis. Nur Dorit und ich hatten davon gewusst. Und jetzt war Dorit tot.
Ich warf einen letzten Blick in den Spiegel, dann ging ich entschlossen zurück auf die Terrasse des Cafés, wo nun nicht mehr Hanna, sondern Fabienne saß. Sie begrüßte mich mit einem leichten Lächeln. «Hallo, Marie! Schön, dass wir uns auch noch mal sehen.»
Ich nickte. «Ja, schön.»
«Hanna telefoniert gerade.»
«Ah ja, verstehe.» Ich seufzte innerlich. Hanna hatte ihren Plan also tatsächlich umgesetzt. Sie war verschwunden, damit ich Fabienne aushorchen konnte, die angeblich irgendetwas über Dorit vor uns verbarg.
Fabienne sah müde und dadurch verletzlicher aus, als ich sie in Erinnerung hatte. Sie sah mich aufmerksam an. «Geht’s dir gut?»
Es war klar, dass das keine allgemeine Frage war, sondern eine nach dem Verlauf der letzten Nacht. Ich spürte, wie ich leicht errötete. «Du meinst, wegen Wolff?»
Sie nickte. Sie schien ehrlich interessiert, aber bar jeder Sensationsgier. Plötzlich konnte ich mir vorstellen, dass Fabienne eine wirklich gute Pastorin geworden war. Mit ihr fiel es mir deutlich leichter zu reden als mit Hanna.
Ich begann mit meiner Serviette zu spielen. «Ach, es war … okay, also …» Ich lachte verlegen auf. «Na ja, ich habe nicht viele Vergleichsmöglichkeiten, weißt du? Es war das erste Mal, dass ich meinen Mann betrogen habe.»
«Verstehe.» Fabienne hatte sich vorgebeugt.
Noch immer mied ich ihren Blick. «Im Grunde weiß ich selbst nicht, wieso ich gestern mit Wolff ins Bett gegangen bin. Na, egal, jetzt ist es passiert …»
«Dein Mann muss doch nichts davon erfahren», sagte Fabienne behutsam.
Ich schüttelte den Kopf. «Nein, ich hatte auch nicht vor, es ihm zu sagen.» Ich überlegte. «Weißt du, alles, was hier in Beerenbök passiert, scheint mit meinem normalen Leben nichts zu tun zu haben. Es ist, als wäre ich hier wie … wie in einer anderen Welt.»
Fabiennes Blick schweifte in die Ferne. «Zwei getrennte Leben. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun, nicht das Geringste.»
Jetzt war ich verwirrt. «Geht es dir denn genauso?»
Fabienne lächelte müde.
Plötzlich hatte ich das Bedürfnis, ihr von meiner nächtlichen Entdeckung zu berichten. Sicher würde Fabienne meine Verunsicherung zerstreuen, eine harmlose Erklärung für alles finden. Jedenfalls würde ich nicht mehr alleine mit meinen Ängsten sein.
Ich holte tief Luft.
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