Die Schatten eines Sommers
– aus welchen Gründen auch immer – wäre Mirko viel zu anstrengend gewesen. Allein das Verwischen der Spuren hätte ihn doch schon ins Schwitzen gebracht!
Und Hannas Misstrauen gegenüber Fabienne machte meines Erachtens genauso wenig Sinn. Gewiss, es war seltsam, dass Fabienne nicht mit uns über Dorits Anruf reden wollte – wenn er denn wirklich stattgefunden hatte. Aber sie würde ihre Gründe dafür haben, welche auch immer. In Fabiennes Gedankenwelt konnte man sich doch nie vollkommen einfühlen, schon früher nicht. Damals hatte ich Fabienne bewundert, aber wirklich verstanden – bis ins Innerste – hatte ich sie nie. Mir war nicht einmal klar, warum Fabienne so bereitwillig mitgemacht hatte, als es damals darum gegangen war, Arne aus dem Bett von Dorits Mutter zu vertreiben.
Fabiennes Fotos waren unglaublich gewesen! Arne und ich wirkten wie ein Liebespaar, völlig verzückt, ineinander versunken. Dabei war die Situation damals am See keinen Hauch erotisch gewesen. Arne hatte nach dem Joggen nach Schweiß gerochen und mich ziemlich unwirsch gefragt, warum ich in diesem «Hemdchen», wie er es nannte, laufen ging, anstatt vernünftige Klamotten zu tragen. Ich hatte das Gefühl gehabt, dass er mich am liebsten einfach meinem Schicksal überlassen hätte, um seine Runde um den See fortzusetzen. Aber das traute er sich natürlich nicht, schließlich war ich die beste Freundin der Tochter seiner neuen Lebensgefährtin. Also hatte er sich dem Schicksal gefügt und sich um mich gekümmert, wenn auch widerwillig. Von alldem sah man auf Fabiennes Fotos allerdings nichts. Die Bilder wirkten zärtlich, verstohlen, geheimnisvoll, leidenschaftlich. Ich erinnerte mich, dass wir kurz zuvor in der Schule das Thema «Bilder lügen» durchgenommen hatten. Es ging darum, wie mit der Veränderung von Fotos Wahrheit verfälscht, ja sogar Weltpolitik gemacht wurde. Heute war ja jedes Kind in der Lage, am Computer Fotos per Mausklick zu verändern. Damals war das noch weitaus schwieriger gewesen. Aber eine Retusche war in unserem Fall gar nicht nötig gewesen. Unsere Fotos waren auch so perfekt. Perfekte Lügen.
Ich selber hatte es mit der Angst bekommen, als Fabienne die DIN -A 4 -großen Bilder in den Umschlag gesteckt und die mit Schreibmaschine getippte Adresse von Dorits Mutter draufgeklebt hatte. Nicht mal den Vermerk «persönlich» hatte sie vergessen.
«Wollen wir das wirklich abschicken?», hatte ich ein Dutzend Mal gefragt, während ich mit zitternden Händen neben Fabienne hergelaufen war, die entschlossen zum Briefkasten marschierte. «Bist du dir ganz sicher, Fabienne?»
Irgendwann hatte es ihr gereicht. Sie blieb stehen und sah mich an, ganz ruhig, ganz klar: «Was man angefangen hat, muss man auch zu Ende bringen.»
Ich sagte nichts mehr. Nicht mal, als der Umschlag lautlos in den Schlitz fiel.
Danach warteten wir. Wir wussten genau, um welche Zeit der Briefträger Dorits Mutter die Post bringen würde, solche Dinge ändern sich nicht, schon gar nicht in einem Dorf wie Beerenbök.
Ich weiß noch, wie ich zu Hause saß und Dorits Anruf herbeisehnte. Sie hatte versprochen sich zu melden, sobald ihre Mutter den Umschlag geöffnet hatte. Vielleicht würde Dorits Mutter ja lachen, wenn sie die Bilder sah. Vielleicht würde sie das Ganze für einen Scherz halten, für eine Albernheit, leicht zu durchschauen.
Aber Dorits Mutter hatte nicht gelacht.
«Marie, sie ist völlig hysterisch!», hatte Dorit mit bebender Stimme ins Telefon gestammelt. «Du kannst dir nicht vorstellen, was hier los ist! Meine Mutter ist wie eine Furie auf Arne losgegangen. Seit wann das mit dir schon geht? Ob sie ihm zu alt ist, ihr Bauch zu schlaff, ihr Gesicht zu faltig? Dass sie wegen ihm ihre Ehe hingeschmissen, ihr Leben aufgegeben hätte … und so weiter und so fort.» Dorit musste Atem holen. «O Marie, es ist schrecklich!» Ihre Stimme brach.
«Und? Was hat Arne dazu gesagt?», fragte ich. Mein Herz schlug hart gegen meine Rippen. Was hatten wir nur getan? Verdammt, was hatten wir da angerichtet?!
Dorit lachte kurz und hysterisch auf. «Der? Der hat gesagt: Das glaubst du doch wohl selber nicht, dass ich was mit einem unreifen Teenie hab? Und dann noch mit diesem farblosen, blassen Spargel!»
Ich erstarrte. «Hat er wirklich ‹blasser‚ farbloser Spargel› gesagt?»
«Was?» Dorit war irritiert. «Warum? Ja, ich glaube schon. Ist doch auch egal. Jedenfalls ist Mama danach in mein Zimmer gekommen. Sie hat geheult,
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