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Die Schatten eines Sommers

Die Schatten eines Sommers

Titel: Die Schatten eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lia Norden
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Maries Augen wanderten unruhig in dem fast leeren Lokal hin und her, und ihre Stimme wurde leiser. «Wie hätte ich dann noch ein Vorbild für meine Tochter sein können, wenn sie das erfahren hätte? Sie ist in einer schwierigen Phase, sie braucht doch eine klare Linie … Und mein Mann? Der hält mich für einen wirklich guten Menschen.» Sie stieß hörbar Luft aus und gab damit ihrer ganzen Selbstverachtung Ausdruck. Dann beugte sie sich plötzlich wieder vor. «Jetzt sag mir bitte die Wahrheit, ja? Sie hat dich doch auch angerufen, oder? Mit Hanna hat sie ja auch telefoniert.»
    Ich zuckte die Schultern. «Ja, sicher. Aber ich habe das nicht ernst genommen. Das hätte sie doch niemals gemacht, Marie. Du weißt doch, wie sehr sie immer übertrieb.» Für eine Sekunde schloss ich die Augen. Dorits dramatisch hochgeschraubte Stimme, mit der sie «Das Schweigen muss gebrochen werden, Fabienne!» gerufen hatte, klang wieder in mir nach.
    Noch immer ruhte Maries Blick auf mir, voller Sehnsucht danach, die Absolution erteilt zu bekommen. Ich nahm ihre Hand in meine Hände. «Marie, wir müssen damit aufhören, im Schmutz zu wühlen, vor allem Hanna. Diese Suche nach einem angeblichen Mörder macht uns alle ganz kirre. Mirko, Wolff … was weiß ich, wer noch alles. Wir sollten nicht an Dinge rühren, die wir nicht verstehen. Wir können Dorit durch diese verdrehten Spekulationen ja auch nicht wieder zum Leben erwecken. Und würden wir das denn überhaupt wollen, Marie? Steht uns das zu? Dorit geht es besser dort, wo sie jetzt ist. Das war doch kein Leben hier in Beerenbök … Ihre Mutter, ihr Job, ihre Schuldgefühle … Nein! Und auch für ihre Mutter wird eine professionelle Betreuung nicht schlechter sein als das abgeschirmte Leben, das sie mit Dorit geführt hat. Marie! Es ist alles gut so, wie es ist. Es ist gut so!»
    Ein Seufzer ging durch Maries Kehle, und sie lächelte mich an. Ich hatte sie erreicht, sie schien mir zu glauben. Ja, alles war gut.

[zur Inhaltsübersicht]
    HANNA
    Marie war auf der Toilette, als Fabienne auftauchte. Wir plänkelten ein wenig, sehr unverbindlich, über Berlin und Hamburg, und erwähnten Wolffs Party und unser unangenehmes nächtliches Gespräch mit keinem Wort. Fabienne sah fertig aus, sehr viel älter als auf der Beerdigung oder im schmeichelnden Licht der gestrigen Nacht. Während ihre Finger ruhelos mit dem silbernen Fischanhänger an ihrer Halskette spielten, tat ich alles, um sie friedlich zu stimmen, fragte freundlich nach ihrem Job und stellte erstaunt fest, dass ihr Gesicht von Falten durchzogen war, die sie müde und bitter aussehen ließen. Nur ihre Augenpartie war die eines jungen Mädchens und so glatt, dass ich kurz davor war, zu fragen, ob sie sich Botox gespritzt hatte. Aber das war natürlich absurd.
    «Wie machst du das?», unterbrach ich sie. «Zwinkerst du nie? Kneifst du nie die Augen zusammen?»
    Irritiert griff sie sich ins Gesicht. «Was meinst du?»
    «Du siehst so jung aus, um die Augen herum. Kein einziges Fältchen.» Ich konnte es nicht lassen und schenkte ihr ein kokettes Lächeln. Es wirkte. Immer noch. Ich genoss ihre kleine Verlegenheit. «Sorry», sagte ich und strich ihr über den Arm. «Erzähl weiter!»
    In diesem Moment klingelte mein Handy. Ich sah kurz aufs Display. «Oh!», sagte ich entschuldigend. «Da muss ich ran, tut mir leid. Ich stecke grade in einer wichtigen Vertragsverhandlung wegen meines nächsten Romans und morgen …»
    Fabienne winkte ab. «Ist schon okay.»
    Als ich den Anruf annahm, meldete sich meine Agentin. «Hallo, hier ist Hollywood. In wenigen Minuten wird ein Helikopter vor Ihrem Fenster sein. Steigen Sie ein! Wir brauchen Sie, sofort!»
    «O nein, wirklich?!» Während ich mich erhob, lächelte ich Fabienne zu. «Warten Sie bitte kurz? Der Empfang ist ganz schlecht hier.»
    Nachdem ich mich von der Terrasse gemacht hatte und um die Ecke verschwunden war, legte ich auf. Der Himmel war wolkenlos und strahlend blau. Die Sonne brannte auf den baumlosen Parkplatz vor dem Restaurant, und ich flüchtete zum Straßenrand, in den Schatten der mächtigen Alleebäume. Es war kaum ein Auto unterwegs. Sobald man sich in dieser Gegend auch nur ein paar Meter von den Seen und Touristenrouten entfernte, war nichts mehr los. Es hatte sich nichts geändert, seit damals. Ich lehnte mich an den Baumstamm, zündete mir eine Zigarette an und überlegte, wie viel Zeit ich Marie geben sollte, um Fabienne auf den Zahn zu fühlen. Länger

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