Die Schatten eines Sommers
sicher sein.»
Marie beugte sich vor und sah mich so flehend an, dass es mich fast peinlich berührte. «Fabienne», flüsterte sie, «es ist ja nicht nur wegen Wolff und alldem …» Sie machte eine fahrige Bewegung mit der Hand. «Es ist ja auch …» Wieder brach sie ab, um dann von neuem anzusetzen. «Ich habe es all die Jahre mit mir herumgetragen und kaum vor mir selbst zugeben wollen … Ich bin schuld an dem Unfall.»
Ich antwortete nicht. Marie klang so, als gäbe es da etwas, von dem ich bisher nichts gewusst hatte. Es war deutlich, dass sie beichten wollte. Sie wollte ihre Seele erleichtern und Frieden finden. Und ich würde ihr zuhören, so wie es meine Aufgabe war.
Hastig und leise begann sie zu erzählen, was sie so bedrückte. Sie beschrieb, wie Dorit sie damals bekniet hatte, ihrer Mutter die Wahrheit sagen zu dürfen, und wie sie selbst unbarmherzig darauf bestanden hatte, dass die Geschichte mit den Fotos bis zum Ende durchgezogen wurde.
«Bis zum bitteren Ende», seufzte sie und senkte den Blick. Ich wusste genau, was für Bilder und Erinnerungen in ihr aufstiegen.
Es war ein schrecklicher Unfall gewesen, der schlimmste, der je im Landkreis passiert war. In den Tagen darauf hatte ich die Leute im Ort jedes Detail schildern hören. Kein Entkommen hatte es gegeben, und die Bilder in der Zeitung hatten sich mir für ewig eingebrannt. Es hieß, der Wagen von Dorits Mutter wäre in einer Kurve von der regennassen Straße abgekommen und hätte sich mehrmals überschlagen, bevor er gegen die Wand eines Stalls gekracht war. Der Bauer, der wenige Minuten später zur Stelle gewesen war, hatte nicht geglaubt, dass irgendjemand lebend aus diesem Wrack geborgen werden könnte. Ohne Zweifel war Dorits Mutter dem Tod näher gewesen als dem Leben.
Sie muss ihrem Geliebten wie von Sinnen hinterhergerast sein, als er das Haus verlassen hatte. Hatte er vorgehabt, sie zu verlassen? Hatte er sie beschimpft, weil sie ihm nicht geglaubt hatte, Opfer einer Mädchenintrige geworden zu sein? Arne hatte der Polizei gegenüber lediglich von einem heftigen Streit erzählt, der ihn veranlasst hatte, sich in sein Auto zu setzen und wegzufahren. «Ich konnte doch nicht wissen, dass sie mir folgt. Ich konnte doch nicht ahnen, was passieren würde.» Seine Worte, die in der Zeitung standen, waren mir unvergesslich geblieben. Wie ein Mantra hatte ich sie mir in den Wochen nach dem Unfall immer wieder selbst gesagt: Wir konnten doch nicht ahnen, was passieren würde. Niemand konnte das ahnen, weder ich noch Hanna, Dorit oder Marie.
Ich hatte den jungen Mädchen von damals längst vergeben. Es waren halbe Kinder gewesen, die in der Langeweile Beerenböks auf dumme Gedanken gekommen waren. Hat man nicht oft genug davon gelesen, dass in der Pubertät eine Umstrukturierung des Gehirns erfolgt, weil Synapsen neu vernetzt werden und man in so einer Zeit verstärkt zu Unbedachtsamkeit neigt? Nein, in letzter Instanz sprach ich die vier nicht schuldig an dem Unfall und seinen dramatischen Folgen. Als erwachsene Menschen hätten Dorits Mutter und ihr neuer Mann mit dieser Geschichte auch weniger kopflos umgehen können. Aber letztlich wird das, was geschehen ist, Gottes Wille gewesen sein. Wer will schon beurteilen, warum er Dorit und ihrer Mutter diese Prüfungen auferlegt hat?
Ich berührte Maries Schulter und fing ihren Blick wieder ein. «Im Psalm 65 heißt es: ‹Unsere Sünden sind für uns zu groß, du wirst sie vergeben …› Marie, jetzt gräm dich doch nicht so. Das alles ist so lange her.»
Marie schüttelte den Kopf. «Ich habe nicht deinen Glauben, Fabienne. Ich trage die Verantwortung dafür, dass ich Dorit damals ins Messer hab laufen lassen. Genauso wie neulich, als sie mich angerufen hat. Da habe ich auch versagt.»
«Neulich?» Ich musterte sie.
«Ja, nachdem sie Hannas Buch gelesen hatte. Sie war so verzweifelt, weil plötzlich alles wieder so präsent war. Sie wollte endlich reinen Tisch machen, ihrer Mutter die Wahrheit sagen, egal, ob die das überhaupt versteht. Sie wollte herausfinden, wo Arne lebt, und sich bei ihm entschuldigen. Bei ganz Beerenbök wollte sie sich entschuldigen. Und ich habe ihr gesagt, es wäre unverantwortlich, wenn sie all die Wunden wieder aufreißt. Einfach nur, weil ich Angst um meinen guten Ruf hatte, meine Ehe, meine Familie, verstehst du? In ein paar Wochen hätte doch niemand mehr über Hannas Buch gesprochen. Aber wenn Dorit wirklich alles wieder ans Licht gezerrt hätte …»
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