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Die Schatten eines Sommers

Die Schatten eines Sommers

Titel: Die Schatten eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lia Norden
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«Wir waren gestern in Wolffs Atelier. Er hat angefangen zu malen, weißt du. Er malt … nicht wirklich gegenständlich, eher abstrakt, aber man kann schon was erkennen.»
    «Und was malt er?»
    «Vor allem Akte, Frauen. Nicht total grottig, aber auch nicht richtig gut. Ich habe nicht viel gesehen, nur ein oder zwei Bilder an der Wand, eins stand auf der Staffelei. – Zu mehr sind wir nicht gekommen …»
    «Verstehe», sagte Fabienne wieder. «Und dann?»
    Ich sprach schnell weiter. «Na ja, dann … das kannst du dir ja denken … Aber als ich gegangen bin, schlief Wolff noch, und da habe ich beim Rausgehen noch andere Bilder gesehen, hinter der Tür.» Ich biss mir auf die Lippen. «Sie standen da so … versteckt, irgendwie.»
    «Und was war drauf?» Fabienne wirkte jetzt richtig gespannt.
    Ich verschränkte meine Hände. «Es waren Bilder sehr junger Mädchen, in gewissen Posen, du weißt schon.»
    «Du meinst pornographisch?»
    Ich nickte. «Ja, aber das war es nicht, was mich störte. Sondern …» Ich suchte Fabiennes Blick. «… dass die Mädchen so verdammt jung waren. So jung wie wir damals, verstehst du?»
    Fabienne griff nach ihrer halbleeren Kaffeetasse und rührte darin herum. «Willst du damit sagen, Wolff ist pädophil?»
    Jetzt war ich wirklich erschrocken. «Nein, um Himmels willen! Es waren keine Bilder von Kindern! Auch wir waren ja damals keine Kinder mehr, sondern junge Mädchen! – Weißt du nicht mehr: Wir haben uns doch öfter darüber lustig gemacht, dass man Wolff reizen konnte. Es erschien uns nicht mal abwegig, schließlich war er gerade mal zehn, vielleicht fünfzehn Jahre älter als wir. Er hat uns ja nie angetatscht oder so. Aber jetzt ist er Mitte fünfzig und hat anscheinend immer noch einen Hang zu … Lolitas.» Ich merkte selbst, dass ich verletzt klang. Und so war es auch. War ich gestern nur ein Notnagel gewesen, weil Wolff an die jungen Frauen, oder besser: Mädchen, die er wirklich begehrte, jetzt nicht mehr herankam?
    Ich redete immer schneller. «Ich hab ihn auf Dorit angesprochen, und er hat mir erzählt, dass sie ein paarmal bei ihm war und dass sie ihn genervt hat. Immer wieder hätte sie ihn auf seine Schülerinnen angesprochen. Dass er doch auf diese jungen Hühner stehen würde und so.» Ich sah Fabienne hilfesuchend an. «Wer weiß, vielleicht hat Dorit ja diese Aktbilder hinter der Tür ebenfalls entdeckt und war schockiert. Vielleicht war sie ja sogar in ihn verliebt und durch seine Abweisung verletzt. Du weißt doch, wie extrem und emotional sie war! Und dann hat sie auch noch Hannas Buch gelesen, und alles wurde zu viel. Da ist bei ihr vielleicht eine Sicherung durchgebrannt, und sie hat sich umgebracht!»
    Ich schnappte nach Luft. So, jetzt war es raus. Erwartungsvoll sah ich Fabienne an. Sicher würde sie meine albernen Überlegungen gleich in der Luft zerreißen und mir unmissverständlich klarmachen, dass Wolff nicht das Geringste mit Dorits Tod zu tun hatte. Und dann konnte ich endlich beruhigt nach Hause zurückkehren.
    Aber Fabienne tat nichts dergleichen. Stattdessen rückte sie ein Stückchen näher an mich heran, so dicht, dass ich ihren warmen Atem auf meiner Wange spüren konnte. «Es könnte auch ganz anders gewesen sein, Marie.» Sie machte eine Pause, und ich war sicher, dass ich das, was sie gleich sagen würde, nicht hören wollte. «Was, wenn Dorit Wolff gedroht hat, seinen Hang zu jungen Mädchen öffentlich zu machen? Das wäre doch einer Katastrophe gleichgekommen, hier, in Beerenbök! Was, wenn Wolff in Panik geraten ist …?»
    Ich schüttelte den Kopf, um sie am Weitersprechen zu hindern, aber es nutzte nichts.
    «Vielleicht hast du mit einem Mörder geschlafen», sagte Fabienne.

[zur Inhaltsübersicht]
    FABIENNE
    In Maries blauen Augen spiegelte sich die ungläubige Angst eines Menschen, dessen Leben plötzlich auf Sand gebaut zu sein scheint. Ich sah, wie ihr festgefügtes Dasein in Schieflage geraten war. Noch ein weiteres Wort von mir, und es wäre endgültig ins Rutschen gekommen.
    Ich berührte ihre Hand, die trotz der Sommerwärme eiskalt war. «Marie», sagte ich, «verzeih … Ich hätte das eben nicht sagen sollen. Wir sind alle ein wenig aus der Bahn geworfen. Die Beerdigung, das alles hier … Lassen wir es gut sein. Egal, was du gestern Nacht getan hast – deine Seele, dein Innerstes, ist davon nicht betroffen. Glaube mir, niemand auf dieser Welt ist ohne Schuld. Und jeder, wirklich jeder kann sich der Vergebung Gottes

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